Von Ingo Pietsch

 

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Ich war so aufgeregt, dass ich nicht einschlafen konnte.
Seit drei Wochen hatte ich mich nicht mehr aus dem Haus gewagt, mich von Konservendosen ernährt und weder Fenster noch Tür geöffnet.
Es roch im ganzen Haus muffig und nach Schweiß.
Meine Frau hatte schon vor Beginn meiner Aktion das Weite gesucht. Sie meinte, mit dem Koffer in der Hand, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte und sie erst wieder kommen würde, wenn ich Erfolg gehabt und/oder ich mich bei ihr entschuldigt hätte.
Tatsächlich waren wirklich keine Tassen mehr im Schrank. Überhaupt stand nichts mehr in den Regalen.
Meine Frau war schon ausgeflippt, als ich unser ganzes Erspartes auf dem Kopf gehauen hatte. Das stimmte so aber auch wieder nicht. Vielmehr hatte ich es nur anders angelegt. Eigentlich war das Geld für ein neues Auto vorgesehen gewesen, aber ich hatte größeres im Sinn.
Irgendwann standen dann zehn riesige Kartons in der Garage.
Aber die Investition würde sich auszahlen und wir würden einen vielfachen Gewinn erwirtschaften – wenn alles gut ging.
Nachdem meine Frau geflohen war, ging ich meine Vorräte durch. Wir hatten immer was für den Notfall im Keller eingelagert und davon würde ich die nächsten Wochen leben müssen.
Ich schaltete die Klingel und das Telefon aus, damit ich nicht gestört wurde.
Den Nachbarn hatte ich erzählt, wir wären im Urlaub. Sie sollten nur den Briefkasten lehren.
Mein halber Urlaub war für diese Aktion draufgegangen.
Aber wenn ich mir mal was in den Kopf gesetzt hatte, zog ich es auch durch.
Meine Frau hasste meine Anwandlungen. Sei es, als ich ein Maislabyrinth in unserem Garten ziehen wollte – wir haben ein sehr großes Grundstück – was uns allerdings mehrere Waschbärenfamilien als Dauergäste eingebracht hatte oder als ich der Meinung war, ich  könnte mit unserem SUV mit Anhängekupplung einen Baumstamm aus der Erde ziehen.
Deswegen auch die Ansparung für ein neues Auto.
Zuerst installierte ich vom Keller bis zum Dachboden alle Kameras, dass auch ja jeder Winkel aufgenommen wurde.
Natürlich waren sie Batterie betrieben und über WLAN mit meinem Laptop verlinkt. Die Kabelage wäre nur im Weg gewesen.
Ich hatte mir schon einen Plan erstellt, dass es auf dem Dachboden losgehen und im Keller enden sollte. Alleine schon der Schwerkraft wegen.
Ich hatte Kochutensilien, dass Wasser und die Lebensmittel ins Schlafzimmer verfrachtet, das jetzt meine Basis war und eine Toilette befand sich auch in greifbarer Nähe.
Nach getaner Arbeit lüftete ich noch einmal das Haus durch und klebte dann fast alle Fenster mit Klebeband zu, damit auch ja nichts schiefgehen konnte.
Ich begann auf dem Dachboden mit all den Gegenständen, die dort herumstanden: Ein Schaukelstuhl, Bilderrahmen, alte Matchboxautos, Koffer, die Weihnachtsdeko, Ersatzdachpfannen.
Es war der reinste Fundus für Ideen.
Ich ließ immer wieder Lücken zwischen den Dingen, damit ich bei einem Unfall nicht wieder von vorne anfangen musste.
Dann war der erste Stock dran. Ich nahm alles aus den Regalen und Schränken und platziertes es nach meiner Vorstellung.
Inzwischen hatte sich das Haus ganz schön aufgeheizt.
Nur in Unterwäsche und barfuß tänzelte ich zwischen meine Kreationen herum.
Immer wieder baute ich Sperren ein, die ich zum Schluss entfernen würde.
Im Erdgeschoss waren Küche, Ess- und Wohnzimmer meine Opfer.
Und zum Schluss ging es in den Keller.
Zwei Wochen waren schon vergangen und es gab immer wieder Unfälle, die mich an meinem Vorhaben zweifeln ließen.
Dann kam irgendwann die Müllabfuhr, an die ich gar nicht mehr gedacht hatte.
Das ganze Haus bebte und ein Teil meiner Aufbauten fiel von alleine um.
Ich hatte auf Youtube immer einen Livestream laufen und tatsächlich hatte ich jeden Tag mehr Follower.
Da die Kameras immer online waren, sprach ich natürlich mit meinen Zuschauern. Als ich mir eins meiner Streams anschaute, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich war vollkommen abgemagert, hatte einen Vollbart und vergessen, mir mal was Neues anzuziehen.
Ich wirkte wie so ein Typ, der auf einer verlassen Insel verschollen war.
Egal, der große Tag rückte näher und ich entfernte alle Absperrungen. Ich war bereit, meine Domino-Bahn aus Haushaltsgegenständen anzuschmeißen. Zwar hatte ich nicht genau mitgezählt, aber es waren bestimmt an die fünfzig tausend Dinge, die ich aufgebaut hatte.
Das wäre ein neuer Weltrekord. Und mit den Werbeeinnahmen auf meinen Kanal, würde ich sicherlich einiges verdienen. So hatte ich es geplant.
Der einzige Wehrmutstropfen war allerdings, dass ich alles wieder aufräumen musste.
Irgendwie bekam ich in der Nacht kein Auge zu und döste nur vor mich hin.
Die Sonne schien zum Fenster hinein und der Laptop surrte vor sich hin.
Der Countdown lief und ich trank einen Schluck Wasser, weil es so heiß war.
Alle Kameras waren online und ich zog mir saubere Kleidung an. Duschen konnte ich später noch.
Ich erklärte noch einmal mein Vorhaben und schaltete im ganzen Haus die Beleuchtung an, ehe ich vorsichtig die Treppe zum Dachboden aufstieg, um ja nichts umzuwerfen.
Gutgelaunt erreichte ich das Ende der Treppe – und erstarrte.
Etwas, das ich nicht einkalkuliert hatte, würde alles zunichtemachen.
Dort saß ein Waschbär und putzte sich mit den Pfoten das Gesicht.
Er saß genau am Startpunkt.
Ich überlegte, was zu tun war, denn er hatte mich noch nicht bemerkt.
Panik überkam mich. Dann stieg Wut in mir auf und ich fragte mich, wie er hier hochgekommen war.
Ich schob den Gedanken beiseite. Jetzt musste ich erst mal zusehen, den Waschbären von meiner Bahn wegzubekommen.
Ich angelte mir den uralten Teppichklopfer meiner Oma und pirschte mich auf Zehenspitzen heran.
Als ich in Schlagweite war, schrie ich den Waschbären an und drohte mit dem Klopfer.
Der Waschbär, sichtlich aufgeschreckt, schrie zurück.
Ich schrie lauter, der Waschbär kreischte und fauchte ebenfalls lauter und draußen rief jemand nach der Polizei.
Dann geschah alles wie in Zeitlupe.
Ich sprang über die Bahn, der Waschbär drehte sich, versuchte zu flüchten und riss mir seinem Schwanz den Bilderrahmen Nummer eins um, der die Bahn in Gang setzte.
Natürlich wurde alles Live ins Internet übertragen, was mir in dem Moment aber völlig egal war.
Hätte ich auf die Zuschauerzahlen gesehen, hätte ich mich sicherlich gefreut, denn sie explodierten auf einmal.
Die Bahn tat genau das, was sie machen sollte und ein Gegenstand warf den nächsten um oder sorgte dafür, dass alles weiterlief.
Währenddessen jagte ich den Waschbären.
Zufälligerweise kamen wir immer genau in den Raum, den der Dominoeffekt gerade beendet hatte und sich weiter ausbreitete.
Ich schlug vieles kurz und klein, eine Fensterscheibe, etliche Haushaltsgegenstände, eine Vitrine.
Dabei schrie ich weiter laut vor mich hin und Waschbär kreischte weiter, ehe ich ihn an der Eingangstür in die Ecke drängte.
Verängstigt und eingeschüchtert saß er da und hielt sich seine Pfoten vors Gesicht.
Ich, bewaffnet mit meinem Teppichklopfer, hatte ihn einmal durchs ganze Haus gejagt.
Mich überkam Mitleid, als im Keller die finale Glocke läutete und die Bahn für beendet erklärte.
Ich öffnete erschöpft die Haustür und scheuchte den Frechdachs nach draußen.
Dort stand im grellen Sonnenlicht ein Streifenwagen und zwei Polizisten bedeuteten mir, mich auf den Boden zu legen.
Die Nachbarn hatten bei dem ganzen Lärm die 110 angerufen, da sie dachten, Einbrecher würden randalieren, da ich ja gesagt hatte, wir wären im Urlaub.
Unrasiert und mit zerrissener Kleidung wirkte ich auch wie Obdachloser.
Das war auch das Letzte, was auf dem Video zu sehen war, dass ich zusammengeschnitten hatte: Wie ich in Handschellen ins Polizei-Auto geschoben wurde, ehe ich irgendetwas hatte erklären können.
Ich klappte meinen Laptop zu und meine Frau neben mir auf der Sonnenliege nippte an ihrem Cocktail.
Wir waren auf Kreuzfahrt und genossen unseren Erfolg.
Ja genau, unseren Erfolg. Denn auf einmal unterstützte sie mich. Auch wenn ich alles alleine hatte Aufräumen dürfen.
Ich hatte ihr versprechen müssen, so etwas nie wieder zu tun.
Jedenfalls nicht Zuhause …
Ich hatte da schon ein paar Ideen. Und es würde der Stadtverwaltung sicherlich nicht gefallen …
PS: Der Waschbär war in dem ganzen Trubel unerkannt entkommen.

 

(V2)