Von Marianne Apfelstedt
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Am Ende meiner Reise begann meine Zukunft und ich hoffte, sie nicht auf weiteren Familiengeheimnissen aufzubauen zu müssen. Die Reifen hatten mich mit jeder Umdrehung weiter weggebracht, vom Job, der mich ausgelaugt hatte und von den Lügen meiner Mutter, die ich nicht glauben wollte, nicht glauben konnte.
Sie war vor ihrer Mutter bis ans andere Ende des Landes geflüchtet, hatte die Donau gegen die Elbe eingetauscht, doch mich ließ sie bis zur Einschulung im Süden. Dann holte sie mich zu sich, riss meine Wurzeln aus und topfte mich in ihrem Leben im Norden wieder ein. Die graue Stadt war wie ein Gefängnis und die fremden Menschen, meine Wärter. Einzig die Kastanienbäume trösteten mich, sie blühten hier genauso wie in Omas Garten. Doch die Mutterliebe von Oma Lisa konnte ich nie ersetzen. Ich bettelte so lange, bis ich in den großen Ferien im Zug saß und wieder Richtung Süden rollte. Heimwärts zu meiner Oma.
Kurz nach meinem 15. Geburtstag verbot mir meine Mutter jeden weiteren Kontakt mit Lisa, damit verlor ich meinen Anker. Ihre Erklärungen fanden in meinen Ohren kein Gehör. Oma konnte ich nicht mit der Frau in Verbindung bringen, von der mir meine Mutter erzählte. Sie beschimpfte Lisa als Nazianhängerin. Was gingen mich Menschen an, die lange vor meiner Geburt gestorben waren. Ich hörte ihrem Wortschwall nicht weiter zu. So zog ich mich immer mehr zurück. Mutter schleppte mich regelmäßig zu ihren Freunden, doch zu dieser Welt gehörte ich nicht. Ich beschloss, sie alle zu übertrumpfen, dabei verlor ich den Blick nach außen und meine Welt drehte sich nur noch um mich selbst. Wurzellos ließ ich mich treiben. Die Zeit wob mich in einen Kokon und ich merkte nicht, wie schnell sie verstrich. Abitur, dann erfolgreiche Absolventin eines Jura Studiums und zuletzt ein gut bezahlter 50-Stunden-Job, der mich komplett vereinnahmte. So vergingen mehr als zehn Jahre.
Eines Tages bekam ich einen Brief von Berta, Omas bester Freundin. Sie schrieb mir, der größte Wunsch von Lisa wäre mich noch einmal zu sehen. Ihre Zeilen rissen meinen Schutzwall nieder. Ich erwachte und der verdrängte Schmerz der letzten Jahre riss mich in einen Strudel aus Emotionen, die ich nicht gelebt hatte.
Nach zehn Stunden Autofahrt kam ich an der letzten Etappe meiner Reise an, nach einem kleinen Imbiss schlief ich sofort ein, ohne dass sich das übliche Gedankenkarussell in meinem Kopf drehte. Am Morgen erwachte ich, fahles Licht schien durch das Hotelfenster. Müde schälte ich mich aus der Decke. Den Blick in den Spiegel vermeidend schlich ich ins Bad. Wenn ich so aussah, wie ich mich fühlte, musste ich mir das nicht ansehen. Das heiße Wasser der Dusche lockerte meine verspannten Muskeln, doch erst die abschließende Wechseldusche machte mich wach. Bibbernd rubbelte ich mir die Haut trocken.
Nach einer weiteren Fahrt stieg ich aus dem Auto aus und streckte mich erst einmal. Unter meinen Halbschuhen raschelte das Laub der Kastanie. Bei meinem letzten Besuch schmückte sich der riesige Baum mit grünem Kastanienlaub und die stacheligen Früchte hingen am Baum. Jetzt war der Boden dick bedeckt mit braunen Blättern. Die nackten Äste reckten ihre Arme in den wolkenverhangenen Himmel, der mit Regen drohte. Ich kam zurück, um zu bleiben, wie ich es Lisa am Krankenbett versprochen hatte. Haus und Grund waren auf mich überschrieben. Unzählige Male lief ich über das Laub zu meinem VW Golf, der mit Gepäck bis unter das Dach vollgestopft war. Mit Taschen und Kartons beladen trat ich den Rückweg an, unter den Ästen zurück zum Haus. Ich vermied den Kiesweg zwischen den Bäumen und lief wie früher lieber durch das Gras, den Blick suchend auf den Boden gerichtet. Endlich entdeckte ich eine Kastanie, ich rieb sie an meiner Jeans ab. Sie schmiegte sich in meinen Handteller, als ich mit dem Daumen über den hellen Flecken strich. Handschmeichler. Im Herbst hatten wir zusammen Kastanientiere mit Zündholzbeinchen gebastelt und jedes bekam seinen Platz auf der Fensterbank in der Gaststube.
Das meiste Gepäck stellte ich in den großen Raum der Gastwirtschaft, der schon mit etlichen Umzugskartons vollgestellt war, die die Spedition letzte Woche transportiert hatte. Erschöpft fiel ich auf die Holzbank. So oft hatte ich hier meine Bluna getrunken, während neben mir die Männer am Stammtisch ihre Schafkopfkarten auf den Tisch donnerten. Oma schenkte die Halbe Bier am Tresen ein und ich trug jedes einzelne Glas zum Tisch, ohne den milchigen Schaum zu verschütten. Dafür bekam ich ein Zehnerl und manchmal sogar fünfzig Pfennig.
Meinen Proviant für die nächsten Tage stellte ich in der Küche ab. Neben dem Spülstein fand ich eine Thermoskanne und einen Zettel: Brot und Käse sind im Eisschrank und Kaffee in der Kanne. Ich wünsche dir eine gute Nacht.
Gruß Tante Berta
Ich packte meine Lebensmittel in den Kühlschrank. Da ich auf der Fahrt gegessen hatte, schenkte ich mir nur eine Tasse Kaffee ein. Der aromatische Kaffeedampf ermunterte mich. Mit dem Kaffeepott und meiner Reisetasche ging ich nach oben.
Die Holzdielen der Treppe knarzten genauso wie in den Ferientagen. Den Koffer setzte ich schwungvoll auf dem Himmelbett ab. Jetzt gab es nur noch eine Hürde, um die Geister der Vergangenheit zu wecken, das Zimmer hinten im Gang. Beim Berühren der Klinke stellten sich mir die Nackenhärchen auf. Ich öffnete die weiße Holztür mit dem Messsinggriff. Mein Blick fiel auf ein wuchtiges Ehebett. Eiche rustikal. Hier war alles genauso wie zu meiner Kindheit, genauso wie vor sechs Monaten, als ich bei ihr am Bett saß. Sie wurde von ambulanten Pflegerinnen zu Hause betreut, wo sie starb. Ihr Herzenswunsch. Die Zeit schien ihre Bedeutung verloren zu haben und ich sah das Mädchen mit den Zöpfen und der Zahnspange, das sich heimlich hier hereinschlich, sich vor den Frisiertisch setzte und Lippenfarbe auf die Lippen strich.
Ich setze mich auf das Bett und schüttelte das Kissen auf. Darunter entdeckte ich einen Gedichtband. Als ich das Büchlein beim Lesebändchen aufschlage, kommt ihr Lieblingsgedicht zum Vorschein „Der Panther“.
„Ich fühlte mich in meinem Leben schon oft genauso eingesperrt wie der Panther. Menschen können ohne Gitterstäbe gefangen sein“, erzählte sie mir einmal. Das Leid, das in diesem Satz verborgen lag, erkannte ich als Kind nicht. Für mich war Oma mit dem dunklen lockigen Haar und den roten Lippen genauso exotisch wie der Panther in dem Gedicht.
Auf dem Nachttisch steht ein Foto von Berta und Oma Lisa, beide trugen Hüte mit Federn, übergroße Brillen ohne Glas und roten Lippenstift. Den Fasching und den Rosenmontag hatte sie immer gefeiert, dann blieb die Gaststube zu und sie zog mit Freunden im Städtchen durch die Straßen. Getanzt und gelacht hatte sie gerne voller Lebenslust.
Ich betrachtete die Fotos an der Wand hinter dem Ohrensessel. Auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie war Lisa etwa zwanzig Jahre. Mit Bleistiftrock, weißer Bluse und kleinem Hut auf den Locken, strahlte sie vom Foto herunter. Hinter ihr konnte ich Hutmacher Hummel lesen. Ihre Tante war Hutmacherin in Berlin und Lisa erledigte dort die Buchhaltung. Sie erzählte so gerne von Berlin, liebte den Tiergarten, besonders die Elefanten. Sie fütterte die Dickhäuter mit Erdnüssen und kicherte, als der Finger am Rüssel fordernd über ihre leere Hand strich. Wenn sie mir von den Elefanten erzählte, strich sie mit ihrem Finger über meinen Handteller, bis wir beide lachten. In der Vitrine standen sie, Sammelstücke, kleine und große. Elefanten aus Jade und Porzellan. Auf der Kommode neben dem Fenster stand eine Flasche Tosca. Daneben ein Kastanientierchen, der Körper verschrumpelt, stand es auf vier Beinen. Ihr Lieblingsduft. Ich drückte den Sprühkopf und ein Odeur von Rose, Jasmin und Maiglöckchen zog durch den Raum. Wenn ich die Augen schloss, fühlte ich sie fast neben mir. Wie sie besprühte ich mein rechtes Handgelenk, um dann den Duft auf das andere zu streichen. Ihr roter Chanel Lippenstift lag auf der Kommode. Ohne diese Lippenfarbe verließ sie niemals das Haus, deshalb legte ihr Berta einen Stift mit in den Sarg. Ich nahm mir eine der schlanken langen Zigaretten aus ihrem Etui, zündete sie an und blies den ersten Rauch nach vielen Jahren aus den Lungen. Oma Lisa rauchte Kim.
Meine Hand strich über den Metallgriff der Schublade ganz unten. Im Geiste sah ich die kleinen Hände einer Sechsjährigen, die sich abmühten die sperrige Schublade herauszuziehen. Mein Herz schlug genauso heftig wie damals, als ich nach einem Schatz suchte. Aus der untersten Schublade nahm ich mir die in schwarzes Leder gebundenen Notizbücher. Heute würde ich mich der Vergangenheit unserer Familie stellen und die Frau, die es neben meiner Oma gab, kennenlernen. Ich hoffte, die Kastanienzündholzbeinchen würden nicht brechen, wenn ich mich der Vergangenheit stellte. Entschlossen schlug ich das Tagebuch auf, das im September 1941 begann, in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, dort hatte Lisa damals gearbeitet.
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