Von J. W. Anders

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.

Beinahe grinse ich bei diesem Satz, mit dem ich normalerweise keine Geschichte beginne. Doch da wir gewöhnlich in den dunkelsten Stunden der Nacht arbeiten, wird dieser Einstieg vielleicht für Verwirrung sorgen.

Überhaupt ­– dies ist kein Standardauftrag, weshalb Mike, der Teamleiter, unser gesamtes Equipment aufgefahren hat. Zusätzlich zu allen Teammitgliedern. Denn unser Zielsubjekt ist laut den Erzählungen außerordentlich gefährlich. Sogar ein blindes Medium nimmt an der Sitzung teil.

Dieses Haus mit seinem herrschaftlichen Portikus hat eine bedrückende Aura. Selbst beim Aufbau der Bewegungsmelder und Wildkameras am Abend habe ich es gespürt. Etwas scheint zu lauern. Alle Sinne nach uns auszustrecken. Die Historie dieser Erscheinung ist nicht überliefert, doch seit über hundert Jahren werden Besucher in diesem Haus attackiert, etliche starben. Wir sollen die Hintergründe aufdecken und – wenn möglich – die Erscheinung befrieden. Wofür uns nicht viel Zeit bleibt: Vom ersten nadelfeinen Lichtstrahl bis zu dem Moment, in dem die Sonne sich vom Horizont löst.

Dies ist mein fünfter Einsatz und der erste mit einem derartigen Aufwand. Ich beziehe meinen Posten in der Abstellkammer. Leider nicht in der Nähe der zu erwartenden Aktivitäten! Schäbig, dieser Raum. Der Putz bröckelt von der Wand, Spinnweben hängen alten Gardinen gleich von der Decke. Das vergitterte Fenster ist kaum mehr als ein schmaler Spalt.

Dabei bin ich im Auskundschaften geübt. Beobachten und analysieren meiner Mitmenschen – etwas, das ich seit meiner Kindheit aus dem Effeff beherrsche. Und Warten. Als Kind wartete ich auf ein Zeichen von Zuneigung, inzwischen warte ich auf eine zündende Idee, einen brillanten ersten Satz, einen Traum, eine Stimmung. Denn ich habe mir durch meine Feldforschungen die Fähigkeit erarbeitet, Beziehungen und Gefühle auszuloten und zu beschreiben. Trauer, Leid, Schmerz, das ersehnt sich meine Leserschaft.

Warten in völliger Stille und Dunkelheit – dieses Mal zermürbt es mich. Es kribbelt und brennt überall in meinem Körper. Am liebsten würde ich mit den Füßen wippen, den Nacken dehnen. Ich atme bewusst ein und aus. Lege mir Sätze zurecht, mit denen ich diese endlose Warterei interessant formulieren könnte.

Die schmale Fensteröffnung färbt sich zu einem dunklen Anthrazitgrau. Ist das der Mond kurz vor dem Untergehen, oder schon ein erstes Anzeichen des nahenden Sonnenaufgangs? Seltsam eigentlich – wenn alle anderen paranormalen Erscheinungen enden, wird diese erst beginnen. Was hat dieses ungewöhnliche Verhalten begründet? Ich hoffe, wir werden es herausfinden. Denn was Mike und Randy, der Koordinator, nicht wissen, ist, dass meine Agentur mir in puncto Abgabetermin für den neuen Roman bereits im Nacken sitzt. Und dieses Mal habe ich ein – sagen wir – abnormes Thema: einen Geist mit fesselnder Geschichte und ausgefallenem Verhalten.

„Es ist da!“ Myrtle, das Medium, in meinem Ohrstöpsel.

Plötzlich geht der stille und anschließend der akustische Bewegungsmelder los. Hier auf dem Flur vor der Abstellkammer.

Was?, denke ich. Hier bei mir? Was soll das denn?

Ich starte den Voice Tracer. Nur vorsichtshalber, denn diese Erscheinung soll sich in Richtung Dienstbotenküche trollen.

„Was ist es?“, fragt Mike.

„Eine Präsenz, dunkel. Sehr dunkel.“

Dunkel, das kann ich bestätigen. Irgendetwas schiebt sich zwischen mich und den Eingang der Kammer. Ich höre, wie die Wildkamera neben der Tür mit einem Geräusch leiser als das Husten eines Flohs die Aufnahme startet.

„Wo?“

„Bei mir!“, flüstere ich. „Ich brauche EMF-Meter, Mikrobarometer und Wärmebildkamera.“

Selbst ohne Messgerät bemerke ich den Temperaturabfall.

„Hallo?“ Atemwolken vor meinem Mund.

„Ich spüre ein Suchen, Verlangen.“ Wieder Myrtle‘ s Stimme.

„Wo?“

Halloho? Mike?

Die frostige Präsenz gleitet näher. Gänsehaut! GÄNSEHAUT!

Die Dunkelheit verdichtet sich. Ein Hindernis zwischen mir und der Tür, zwischen mir und dem schmalen Fenster. Das Blinken des Aufnahmegeräts wird bleich und erlischt.

„Ich brauche EMF-Meter, Mikrobarometer und Wärmebildkamera“, wiederhole ich deutlich.

Wieder keine Antwort. Wir haben das Zentrum der Aktivitäten in der Gesindeküche erwartet, wo Mike und Randy zwischen EMF-Meter, Oszilloskop, Mikrobarometer, Full Spectrum Kameras und Geigerzähler sitzen und sich nicht rühren. Die Kommunikation kann doch nicht gestört sein. Myrtle dringt schließlich auch zu mir durch:

„Schwärze. Ein unendlicher Abgrund. Suchend.“

„Zu mir. Abstellkammer. Die Geräte!“ Meine Zähne klappern. Hat mich jemand gehört? Irgendjemand? „Hallo?“ Die Atemwolken formen Eisberge vor meinem Gesicht.

Etwas kriecht spinnengleich die Wand neben der Tür hinauf. Dann an der Decke entlang. Näher und näher. Stoppt direkt über mir. Mein Herz rast. Ich will schreien. SCHREIEN! Und kann nicht.

Weg hier, denke ich. HAU AB! Doch jetzt, wo sie sollen, bewegen sich meine Füße nicht.

Ich taste nach meiner Taschenlampe. Suche mit zitternden Fingern den Einschaltknopf. Niemand wird erfahren, dass ich dieses Wesen verjagt habe. Die Lampe flackert auf, so kurz wie ein Blinzeln. Und erlischt. Ich habe doch extra die Batterien ausgetauscht, oder nicht?

„Zurückweisung.“

Kälte rieselt auf mich herab. Mehr als nur Kälte – eine Polarnacht muss sich so anfühlen. Ich ziehe die Schultern hoch. Lege die Arme um mich. Meine Muskeln zittern immer schneller.

„Tiefer Schmerz. Einsamkeit.“

Wieder nur Myrtle in den Ohrstöpseln. Und redet von Einsamkeit. Weiß sie überhaupt, was das ist? Jeder hier hofiert sie. Wer ist denn hier einsam? Meister im Einsam-Sein? In dieser klaustrophobischen Schwärze. Weshalb melden sich Mike und Randy nicht? Oder wenigstens eines der anderen Teammitglieder? Wieso lassen mich alle im Stich?

Die Luft ist zum Schneiden dick. Es fühlt sich an, als stünde ich in einem eisigen Wasserfall. Ich kann nicht atmen gegen diese kaltfeuchte Materie. Meine Lungenflügel protestieren. Jede einzelne Gehirnzelle schreit gellend nach Luft.

Ich ersticke, denke ich. Ich ersticke und keiner registriert es.

„Es wurde verlassen. Verstoßen.“

Ein passendes Ende für mich: von niemandem bemerkt. Mal wieder unbedeutend. Sogar meine Eltern haben mich zwischen meinen hyperaktiven Geschwistern meist übersehen. Und hätte ich darüber nicht einen Roman geschrieben, der die Bestsellerlisten gestürmt hat, würde mich überhaupt niemand zur Kenntnis nehmen. Meine Eltern verleugnen mich übrigens, seit sie wissen, dass es meine Geschichte schwarz auf weiß gibt.

„Immer allein!“

Die Worte strömen von meinen Ohren über die Nervenbahnen ins Gehirn. Branden gegen meine vor langer Zeit errichtete Schutzmauer. Erwecken Bilder, die ich nicht sehen will. Graue Bilder: Ich zuhause, allein in einer Ecke spielend. Ich im Kindergarten, allein an einem Tisch malend. Ich in der Schule, allein auf einer Bank lesend. Ich im Studium, allein über den Campus eilend.

Myrtle scheint meine Geschichte zusammenzufassen: „Es sehnt sich. Sucht Nähe.“

Sehnen! Sehnen nach Nähe! Nichts hat jemals so geschmerzt. Folter, an jedem Tag meines Lebens. In meinem Magen schwappt Galle, mein Herz poltert. Schreien, schreien, ich will nur schreien. Doch ich kann nicht atmen. Und wer hätte jemals darauf reagiert? Wer hört mich heute?

„Es wartet.“

Kann die nicht mal für einen Moment den Mund halten?

Ich versuche den geistigen Nebel heraufzubeschwören, um die ätzenden Erinnerungen einzuhüllen. So oft geübt. Nein, ich will nicht daran denken, dass ich immer irgendwie anders war. Zu leise, zu kompliziert, an eigenartigen Dingen interessiert.

Ich verglühe, verglühe gänzlich. Nicht nur meine Lunge, auch mein Geist. Ich schnappe pfeifend nach Luft. Bekomme die Atemwege voll abgestandener modriger Feuchtigkeit und muss würgen.

„Kontakt!“

Ich atme. Zuerst hektisch, dann ruhiger. Das Wüten in der Brust lässt nach. Das Herz galoppiert nicht länger. Langsam wird mir wärmer. Das Fenster, schmal wie in einem Verlies, zeichnet sich grau gegen all das Schwarz ab.

Wo ist es? Ist es noch hier?

„Es ist hier!“, zischt Myrtles Stimme.

„Hallo, wo seid ihr? Lasst mich nicht allein! Hallo?“

„Es ist hier, bei dir. Es hat dich gesucht.“

Mich? Mich hat es gesucht? Weshalb redet Myrtle plötzlich direkt mit mir? Und warum sollte dieses Wesen gerade mich suchen?

„Es hat dich vermisst.“

Es kennt mich nicht. Und selbst wenn es mich kennen würde …

„Es kennt dich. In- und auswendig.“

Das kann alles nicht real sein. Bestimmt bin ich nicht ganz wach. Ich wische mir mit beiden Händen übers Gesicht. Seltsamerweise sind meine Wangen feucht, als würde ich im Nieselregen warten.

„Du bist nicht allein“, tröstet mich Myrtle.

Ein Schluchzen, ich kann es nicht zurückhalten. Erstaunlich laut in dieser atemlosen Stille. Was werden die anderen von mir denken. Egal, sie sind nicht gekommen, als ich sie rief. Nur Myrtle‘ s Stimme ist bei mir – und diese Präsenz.

Ich fühle keine Kälte mehr, zittere nicht länger. Ein Windhauch streicht über mein Gesicht. Sanft und leicht, beinahe zärtlich. Etwas umhüllt mich mit Wärme. Umarmt mich.

„Ich bin bei dir!“

Geborgenheit – so lange ersehnt – hier ist sie. Das Gefühl, nach Hause zu kommen. Endlich wichtig. Als ich. Einfach nur ich!

„Ich brauche dich!“

Der Kloß in meiner Kehle, der ewig quälende Schmerz in meinem Magen, das Zittern ganz tief in mir – vorbei. Einmal so angenommen werden, wie ich bin. Ohne mich verstellen zu müssen. Erwünscht zu sein.

„Wir gehören zusammen“, jubelt Myrtle‘ s Stimme in meinem Ohr.

Es ist bei mir. Ist mein Halt, meine Festung. Mein Rückzugsort gegen die Kälte des Lebens. Endlich! Ich bin nicht sonderbar. Kein Außenseiter. Mein Sehnen gehört zu uns. Verbindet uns.

„Nie mehr allein“, ruft Myrtle und ich falle mit ein.

„Nie mehr allein!“ Nicht mit einer Stimme. Noch nicht einmal mit Zwei. Nein, ich rufe als Chor aus Stimmen, helle und dunkle, junge und alte, schrille und wohltönende.

Im schmalen Fenster zeigt sich das blasse Morgengrau. Die Sonne löst sich vom Horizont.

„Nie mehr allein!“ Ein letzter Hauch. Im Augenblick des Tagesanbruchs.

 

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