Von Raina Bodyk
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde. Bisher hatte ich gezögert, an der Olympiade in Berlin teilzunehmen. Konnte ich mit gutem Gewissen in einem Land antreten, wo jüdische und farbige Athleten diskriminiert wurden? War ich doch selbst ein Schwarzer.
Mein Trainer Larry Snyder las mir gehörig die Leviten.
„Jesse Owens, kapierst du eigentlich nicht, wie wichtig dieses Ereignis für deine Karriere in der Leichtathletik ist? Du bist der Beste in den USA! Vor einem Jahr hast du in Ann Arbor in 45 Minuten unglaubliche fünf neue Weltrekorde aufgestellt! Die Plackerei der letzten Jahre darf doch nicht umsonst gewesen sein.“
An diesem Morgen stimmte ich endlich zu.
- August 1936
Endlich! Es ging los!
Vor lauter Aufregung hatte ich kaum geschlafen in der Nacht.
Mit hunderttausenden anderen Sportbegeisterten stand ich an der ‚Via Triumphalis‘ Spalier. Unzählige Olympia- und Hakenkreuzfahnen ließen die Luft schwirren. Die erwartungsvolle Begeisterung der anderen steckte mich an und plötzlich war ich stolz darauf, dabei sein zu dürfen.
Adolf Hitler fuhr mit unbewegtem Gesicht und mit der Gebärde eines segnenden Messias im offenen Mercedes an uns vorbei zum Olympiastadion. Pünktlich um 17:50 Uhr eröffnete er die Feier der XI. Olympischen Spiele der Neuzeit. 20.000 Friedenstauben erhoben ihre Flügel in den Himmel. Wir, fast 4000 Athleten aus 49 Nationen, liefen feierlich ein, während unsere Nationalflaggen gehisst wurden. Die Hindenburg kreiste langsam über uns. Es war unglaublich berührend, eine spektakuläre Show mit vielen Gänsehautmomenten.
Hitler und sein Gefolge schauten in der Ehrenloge voller Genugtuung zu. Alles sollte gigantisch sein. Die Welt sollte sehen, dass Deutschland ein friedliches und soziales Land war, wirtschaftlich auf dem besten Wege, von Rassismus weit entfernt.
„Goebbels, da hast du wirklich etwas ganz Großes geleistet mit dieser Inszenierung!“, begeisterte sich der Führer.
Der nickte erfreut. „Wie geplant haben wir alle Obdachlosen, Sinti und Roma in das Zwangslager in Marzahn umgesiedelt. Schilder wie ‚Juden unerwünscht‘ wurden entfernt, die Schaukästen mit den ausgelegten Exemplaren des ‚Stürmer‘ abgeschraubt. Die deutschen Journalisten sind angewiesen, den ‚Rassenstandpunkt‘ in ihren Berichten auszusparen.“
„Die im Juli begonnenen Arbeiten am KZ Sachsenhausen laufen planmäßig?“ „Selbstverständlich, mein Führer. Ich denke, dass im September die ersten Häftlinge dort einziehen können.“
- August
Nach den Vorläufen warteten alle voller Spannung auf das Sprintfinale über 100 m der Herren, 3 Amerikaner gegen 3 Europäer. Ich galt als eindeutiger Favorit. Nach der Hälfte der Strecke lag ich weit vorn. Bevor ich übermütig werde konnte, holte mein Landsmann Ralph Metcalfe unerwartet auf und wir lieferten uns einen aufregenden Endspurt. Ich gewann mit einer Zehntelsekunde Vorsprung. Das ganze Stadion schrie euphorisch „Jesse, Jesse!“ Reporter und Kameraleute schubsten sich gegenseitig zur Seite und rissen sich um mich, den ‚schnellsten Mann der Welt‘. Trunken vor Glück meinte ich fast, fliegen zu können.
Überhaupt hatte ich das berauschende Gefühl, in einer anderen Welt zu leben. Ich fühlte mich so frei. Zum ersten Mal in meinem Leben. Konnte einfach in den nächsten Bus voll mit Weißen steigen, konnte einkaufen, wo ich wollte, immer waren die Menschen freundlich. Ich konnte in jedes Café gehen und bekam, was ich bestellte. Statt Ausgrenzung erfuhren ich und die ganze amerikanische ‚Black Gang‘ aufrichtige Freundschaft.
- August
Am nächsten Tag: Weitsprung der Herren. Ich erkannte meinen Hauptkonkurrenten sofort: Luz Long, Europameister und mein härtester Gegner. Ein Hüne von Mann, blond, blauäugig, markante Gesichtszüge. Unwillkürlich dachte ich, dass er genau dem Bild des arischen Herrenmenschen der Nazis entsprach.
Beim Finalspringen kam es zum spannenden Duell zwischen Long und mir. Er stellte gleich einen neuen Europarekord von 7,87 m auf. Das fing ja gut an!
Ich war hochgradig nervös, nachdem der erste Sprung ungültig, der zweite zu kurz war. Long bekam das wohl mit und legte mir kurz die Hand auf die Schulter. Keine Ahnung, ob es geholfen hat, jedenfalls schaffte ich im dritten Anlauf einen erstklassigen Sprung.
Hinter mir hörte ich Long rufen: „You did it!“ Ich hatte gerade als erster Weitspringer die 8-Meter-Marke geknackt und wurde mit 8,06 m Weltrekordmeister und Olympiasieger!
Yeaahh! Verdammt, ich wusste doch, dass ich es schaffen konnte! Ich riss die Arme hoch. Jubel umbrauste mich.
Luz und ich sahen uns nur an, stolz auf unsere jeweiligen Leistungen, und gratulierten uns gegenseitig. Dann fielen wir uns glücklich lachend in die Arme. Luz freute sich ganz offen für mich. Er legte mir seinen Arm um die Schulter und gemeinsam verließen wir das Feld.
Später erfuhr ich, dass er an jenem Abend in sein Tagebuch schrieb: „Ich kann nicht anders und laufe zu ihm, bin der Erste, der ihn beglückwünscht, umarmt. Diese fast märchenhafte Weite, bei diesem Wetter.“ (1)
Hitler, Heß und von Schirach schauten sich in ihrer Loge entsetzt an. Das war in ihrer Vorstellung einfach nicht möglich! Ihr Vorzeigesportler, deutsches Idol, wurde von einem Schwarzen besiegt!
Hitler wütete: „Ich werde diesem Neger nicht die Hand geben!“ (2)
Rudolph Heß ließ Long später zu sich rufen und drohte mit Ärger, wenn er sich noch einmal erfrechen würde, „einen Neger zu umarmen“. (3)
Gottlob waren sie so vorausschauend gewesen, keine ausländischen Fotoreporter ins Land zu lassen. Auf die eigenen Leute war Verlass, sie würden im Wesentlichen die deutschen Sportler und ihre Leistungen abbilden. Dieser Untermensch würde kaum Thema in der deutschen Presse sein.
Es musste Luz eine Menge Mut gekostet haben, sich mit mir anzufreunden – vor den Augen Adolf Hitlers. Ohne den Anspruch Hitlers, den schönen Schein der Olympiade zu bewahren, hätte es für ihn schlimme Repressalien bedeutet. Der Führer musste fast durchgedreht sein, dass sein deutscher Favorit sich nicht nur von einem Farbigen besiegen, sondern auch umarmen ließ und sich mit ihm anfreundete.
Gemeinsam setzten wir uns im Olympischen Dorf zu einem Kaffee zusammen und erzählten von unseren so unterschiedlichen Leben. Er war sehr berührt von dem immer noch existierenden Rassismus in den USA. Der Norden hatte uns befreit, aber diskriminiert und ungerecht behandelt wurden wir immer noch.
In der Ferne hörten wir Swing- und Jazzrhythmen aus den Lokalen.
„Ich hätte ja nicht gedacht, dass ihr in Deutschland amerikanische Musik spielt. Finde ich toll, meine Vorurteile waren vielleicht doch nicht so begründet.“
„Vertu dich nicht, Jesse. Das tut Berlin nur für euch Ausländer. Hitler legt größten Wert auf das Bild eines modernen Vorzeigedeutschlands. Wenn ihr alle weg seid, wird diese sogenannte ‚Negermusik‘ ganz schnell wieder verschwinden.“
„Du meinst, das alles hier ist nur eine gigantische Show?“
Luz Long zuckte nur mit den Achseln.
- August
An diesem Tag stand der 200-m-Lauf an. In 20,7 Sekunden und einem Vorsprung von vier Zehntelsekunden lief ich auch hier Weltrekord und gewann die dritte Goldmedaille. Ein wahr gewordener Traum! Innerlich dankte ich meinem Trainer Larry Snyder, dass er mich so gedrängt hatte. Jetzt war mir eine internationale Sportkarriere sicher.
- und 9. August
Die letzte Disziplin für mich war der 4 x 100-m-Lauf. Bereits im Vorlauf lief ich Weltrekord und konnte diesen im Finale am nächsten Tag noch um zwei weitere Zehntelsekunden auf 39,8 Sekunden verbessern. Das bedeutete das vierte Gold! Frenetischer Beifall aus zigtausend Kehlen. „Jesse, Jesse!“ Eine solche unglaubliche Begeisterung erlebte ich hier zum ersten Mal. Es war der pure Wahnsinn. Ich war ja einiges gewöhnt, aber ich kämpfte wirklich mit den Tränen!
Hinter den Kulissen tobte Goebbels: „Die weiße Menschheit müsste sich schämen – das ist eine Schande!“ (4)
Ein „Neger“ sollte besser sein als die überlegene, arische Rasse?! Unmöglich! Das war nur so zu erklären, dass er im Innern noch immer ein Wilder war, unzivilisiert, ungezähmt seine Beute jagend.
Nach diesem Sieg sollte ich Hitler vorgestellt werde. Bisher hatte ich den Führer nur aus der Ferne gesehen und war, ich gestehe, sehr neugierig auf die Begegnung mit ihm. Aber es sollte nicht sein. Als wir uns näherten, standen er, mit ihm zwei SS-Leute und zwei Generäle auf und verließen eilig den Stand. Da ging mir ein Licht auf und mir fiel wieder ein, was ich über die Nazis und ihren Rassismus gehört hatte. Für den kleinen Mann mit dem seltsam schmalen Oberlippenbärtchen waren Schwarze Menschen zweiter Klasse. Ich hatte in all diesen aufregenden und nervenaufreibenden Tagen die Politik völlig vergessen.
Mein Freund Luz musste sich darüber so sehr geärgert haben, dass er sich in der „Neuen Leipziger Zeitung“ am 11. August unter hohem Risiko in einem Artikel zitieren ließ: „Der Kampf der Farben ist beendet. Schwarz war der Beste, einwandfrei der Beste, mit 19 Zentimetern vor Weiß.“ (5)
Das hätte sein berufliches Aus bedeuten können oder sogar eine Vorladung vor den Volksgerichtshof.
Wir verbrachten nur diesen einzigen Tag zusammen und doch hielt unsere tiefe Freundschaft bis zu Luz Longs Tod. Er fiel 1943 bei einem Einsatz in Italien.
Seinen letzten Brief hielt ich immer in Ehren: „Lieber Freund Jesse! … Ich fürchte nur, für die falsche Sache zu sterben. Ich hoffe, dass meine Frau und mein Sohn überleben werden. Ich bitte dich als meinen einzigen Freund außerhalb Deutschlands, dass du sie eines Tages besuchen wirst, um ihnen zu sagen, warum ich dies tun musste und wie schön die Zeit war, die wir gemeinsam erlebten. Luz“. (6)
Kaum war das große Sportspektakel vorbei, sang die Hitlerjugend bereits wieder:
„Wenn die Olympiade vorbei – schlagen wir die Juden zu Brei.“ (7)
Das Olympische Dorf wurde bereits nach wenigen Tagen für die Wehrmacht umgebaut. Im Dezember 1936 zogen die ersten Offiziere und Soldaten ein, machten sich bereit für den bereits beschlossenen Krieg.
- https://tokio.sportschau.de/tokio2020/geschichte/Long-vs-Owens-Eine-Geste-fuer-die-Ewigkeit,luzlong106.html
- https://www.spiegel.de/geschichte/olympische-spiele-1936-in-berlin-propagandaschlacht-im-stadion-a-1104943.html
- https://www.spiegel.de/geschichte/olympische-spiele-1936-in-berlin-propagandaschlacht-im-stadion-a-1104943.html
- https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/sport/geschichte_der_olympischen_spiele/pwiejesseowensolympiastar100.html
- https://www.welt.de/geschichte/article115747063/Umarmen-Sie-nie-wieder-einen-Neger.html
- https://de.wikipedia.org/wiki/Luz_Long
- https://www.spiegel.de/sport/berliner-bluff-a-5ba67778-0002-0001-0000-000042650943
9981 Z (ohne Fußnoten)