Von Matthias Herrmann

 

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde. Es war mein vierter ERSTERSCHULTAG. Vater hatte mich diesmal vor der Schule abgesetzt.

„Heute musst du deinen Weg alleine gehen!”, hatte er mir erklärt. So ging ich ihn also, meinen Weg. Ich stieg die Treppe hinauf.

Oben angekommen wandte ich mich noch einmal um und winkte ihm und der im herbstlichen Morgennebel langsam entschwindenden Kutsche hinterher. Doch Sentimentalitäten sind meine Sache nicht, und energisch stieß ich mit dem Knie die Eichenholztür der Grundschule unserer Gemeinde auf. Und wie ich befürchtet hatte, fiel mir dabei fast meine Schultüte aus der Hand, denn für den vierten ERSTENSCHULTAG war sie immer noch recht mächtig. Allerdings traf ich andere ABC-Schützen, deren Tüten so gewaltige Ausmaße angenommen hatten, dass zwei bis drei Sherpas sie schleppen mussten! Dagegen lag die meine ja recht locker in der Hand. Ich traf auch ein Mädchen mit langen, blonden Wimpern, deren Tüte ich, ohne zu zögern, im Geiste als Tütchen bezeichnete, baumelte sie doch an einem Goldkettchen um ihren Hals. Ich vermutete, dass es ihr achter oder neunter ERSTERSCHULTAG war. Sie stand tatsächlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Sogar der Gemeindereporter schoss ein Foto von ihr, das meine Mutter am nächsten Tag aus der Zeitung schnitt, und in unser Familienalbum klebte, weil sie glaubte, mich im Hintergrund zu erkennen.

Zwei Kinder mussten sich eine Schulbank teilen. Ich platzierte meine Tüte genau in der Mitte. Ungern erinnerte ich mich an die vorjährigen ERSTENSCHULTAGE. Diese albernen Diskussionen! Ich hatte es satt, über Hoheitsrechte und Einflusssphären und Out of Area-Einsätze zu debattieren! Herausfordernd blickte ich um mich. Wer würde es wagen, sich neben mich zu setzen? Schließlich drückte sich ein kleiner, dicker, rothaariger Junge auf den Stuhl neben mir. Es schien sein allererster ERSTERSCHULTAG zu sein, war doch seine Tüte derart voluminös ausgefallen, dass gleich zwei Sherpas neben seinem Platz standen, und die Schultüte mit einiger Anstrengung in die Höhe stemmten. Es war aufregend, zu beobachten, wie sich die Sherpas in einen Zustand der Meditation versetzt hatten. Nichts ließ ihre Anstrengung ahnen, außer ihrem Stöhnen und Ächzen und Jammern. Ihre Augenlider waren fast gänzlich über ihre Augäpfel gerutscht, und nur dieser schmalste aller schmalen Spalte zwischen Ober- und Unterlid verriet uns, dass sie wach und vollkommen konzentriert, eisern das oberstes Gebot der Sherpazunft befolgten, das da lautet: SHERPA, HALT DIE TÜTE HOCH! SHERPA, HALT SIE HOCH!

Doch jetzt setzte sich vor mir in die erste Bankreihe, das Mädchen mit den langen, blonden Wimpern! Sie hatte wirklich einen schönen Hals und ihre Glatze war auch nicht ohne, hatte sie doch dort das Eiserne Kreuz ihres Großvaters und verschiedene Medaillen des örtlichen Wandervereins befestigt, die hell gegeneinander klimperten, wenn das Mädchen anmutig ihren Hals wand.

Der kleine, dicke, rothaarige Junge neben mir starrte bewundernd auf die Abzeichen und den Hals, während er in die Hose pinkelte. Ich wies ihn nach einer Weile auf den hübschen See hin, der sich unter seinem Stuhl gebildet hatte. Die anderen Kinder lachten, und wollten Schiffchen aus Papier auf dem See schwimmen lassen, doch als die ersten Boote in See stachen, kam die Frau Lehrerin ins Zimmer, hinter ihr die Viermanneinhornblaskapelle. Die Kapelle spielte die Hymne unserer Gemeinde. Ergriffen standen wir neben unseren

Pulten. Leider versickerte der See, während wir der Kapelle lauschten. Und als wir uns gerade wieder hinsetzten, warf mir das Mädchen mit den langen, blonden Wimpern einen aufregenden Blick zu, der nicht ohne Antwort bleiben konnte. Eine Rolle Weingummi aus meiner Schultüte schien mir die passende Replik zu sein. Zart schnippte ich meine kleine Aufmerksamkeit über ihre schmale, linke Schulter. Aufregend knisternd landete die Rolle auf ihrem Tisch. Ach, wie hell und herrlich klimperten ihre Abzeichen und das Eiserne Kreuz, als sie dankbar nickte.

„Guten Morgen, liebe Kinder!“, sagte die Lehrerin.

„Guten Morgen, Frau Lehrerin!“, antworteten wir im Chor. Die Sherpas schwiegen, denn in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutet dieser Gruß etwas gänzlich anderes. „Bedankt euch bei der Viermanneinhornblaskapelle!“, forderte die Lehrerin uns auf. Wir standen also alle noch einmal auf, und riefen im Chor, von links nach rechts:

VIELEN DANK VIER MANN EIN HORN BLAS KAPELLE!

Die Schwierigkeit bestand darin, die Übergänge von Bankreihe zu Bankreihe nicht zu verpatzen. Ich sagte gerade: EI…! und während ich noch N sagen wollte, brüllte der kleine, dicke, rothaarige Junge neben mir schon: HORN!

In der kurzen Unruhe nach dieser Danksagung ging mein kleines Missgeschick glücklicherweise unter.

„So, wir lernen heute das Schreiben“, sagte die Lehrerin, und schrieb mit weißer Kreide folgenden Satz an die Tafel:

DEUTSCHE WAFFEN, DEUTSCHES GELD MORDEN MIT IN ALLER WELT!

Dann las sie uns den Satz laut vor. Peinlicherweise rief der kleine, dicke, rothaarige Junge neben mir, so dass alle es hören konnten:

„Das reimt sich ja!“

„Dummkopf! Hurensohn! Arschloch! Verpiss  dich!“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Da fing er doch glatt an zu weinen, und es tat mir leid, ihm den Spaß des ERSTENSCHULTAGES verdorben zu haben.

Tage später, in der großen Pause, erklärte ich ihm, dass es einfach nicht anginge, sich so in den Vordergrund zu spielen. Ich fragte ihn, ob er eine schwierige Kindheit gehabt hätte, aber er fing nur wieder an zu weinen. Hoffnungsloser Fall, dachte ich, und ließ ihn

stehen. Grinsten mir die Sherpas zu, als ich noch einmal zu dem kleinen, dicken, heulenden  Rotschopf zurückblickte, der viele Jahre später einmal mein Schwager sein sollte?

Die Lehrerin ignorierte jedenfalls seinen Einwurf. Sie sagte: „Kinder, strengt euch an! Schreibt alle diesen Satz in eure Hefte!“

Während wir uns anstrengten, marschierte die Lehrerin durch die Bankreihen. Als sie neben mir stand, spürte ich das heftige Verlangen, unter ihren dunkelblauen Faltenrock zu schlüpfen. Ich sah sie fragend an. Doch sie schüttelte streng den Kopf, und sagte: „Schreib!“

Beschämt senkte ich den Blick auf die leeren Seiten meines Schreibheftes. Meine Güte! Der kleine, dicke, rothaarige Junge neben mir schrieb schon, was das Zeug hielt! Doch als ich las, was er schrieb, musste ich lachen. Er schrieb: FEUER UND FLAMME FÜR DIESEN STAAT!

„Dummkopf! Hurensohn! Arschloch! Kannst du nicht lesen, was an der Tafel steht?“ flüsterte ich ihm ins Ohr.

„Lass mich in Ruhe!“, flüsterte er zurück. Denkste, dachte ich, und verschob mit meinem Ellenbogen unauffällig die Grenze meines Einflussgebietes.

„Gut! Jetzt will ich das Schreiben lernen!“, sagte ich mir dann. Und nach anfänglichen, kleineren Problemen schrieb ich ohne weitere Schwierigkeiten den Satz in mein Schreibheft. Stolz präsentierte ich der Lehrerin mein Ergebnis. Sie lobte mich, und ließ mich zur Belohnung unter ihren dunkelblauen Faltenrock schlüpfen. Ärgerlicherweise belohnte sie den kleinen, dicken, rothaarigen Jungen ebenso. Nun hockten wir also gemeinsam unter ihrem Faltenrock, zupften mit unseren Zähnchen und Zungen an ihrer Unterwäsche, schnupperten verheißungsvolle Wärme, zerstritten uns schließlich im Positionskampf so heftig, dass die Lehrerin uns unter ihrem Rock hervorzerrte, und eine unangenehme Strafe aufbrummte:

Wir mussten eine Stunde nachsitzen und das Parteiprogramm der SPD abschreiben! Endlich als die Stunde vorbei war, ließ die Lehrerin uns gehen. Mein vierter ERSTERSCHULTAG war vorbei! Was war nur alles geschehen! Wahrhaftig! Ich hatte mich in das Mädchen mit den langen, blonden Wimpern verliebt!

Und als ich zu Vater in die Kutsche stieg, sprudelte es nur so aus mir heraus: „Vater, Vater! Rasiere mir eine Glatze! Vater, Vater! Ich will in den örtlichen Wanderverein! Vater! Vater! Ich brauche dein Eisernes Kreuz!“

Doch Vater ging nicht darauf ein. Er fragte: „Hast du schreiben gelernt? Hast du Freunde gefunden, mein Sohn?“

Ich zeigte ihm mein Schreibheft. Er las den Satz und das Parteiprogramm der SPD, und sagte:

„Du hast eine schöne Handschrift, mein Sohn! Du kannst es weit bringen!“

 

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