Von Kay Rapp

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.

Der moderne Mensch ist selbstbestimmt. Sein Wille ist autonom. Abhängigkeit und Fremdbestimmung lehnt er ab. Er hat den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, auch am Morgen.

(Immanuel Kant)

 

Heute Morgen, 8:00, stand ich an der Haltestelle und wartete auf den Bus. Um 8:17 sollte Linie 19 hier halten und Kara, mein Pre-Work-Date, sollte aussteigen, der erste Kontakt. Wir hatten online verabredet, gemeinsam zum ersten Kennenlernen, bis zur nächsten Haltestelle zu spazieren. Uns dort zu trennen, zu arbeiten und dann, ja dann mal sehen.

Ich bin Marketing Manager in einer aufstrebenden Agentur und immer beschäftigt. Meine Zeit ist für den Kunden, ich bin für den Kunden und sein Auftrag ist für mich. Da ist das von mir entwickelte Pre-Work-Date ideal. Morgens hat jeder Zeit, klarer Ablauf, ausgeschlafen, zeitlich begrenzt.

Der Bus kam. Die Mutter neben mir, Kinderwagen, zweites Kind an der Hand, Standard-Labrador an der Leine, wartete nervös. Ich wartete nervös.

Kara versprach einen roten Mantel, rote Handschuhe und eine Sonnenbrille zu tragen. Ich einen roten Schal. Marketing technisch perfekt umgesetzte Wiedererkennung.

Die Tür schwang auf, Schülerinnen quollen heraus. Ich stand hinten, drei Türen im Blick, kein roter Mantel?

Der Kinderwagen neben mir hob die Vorderräder, ein „Ach bitte!“ Und brav hob auch ich an und voran. Kind, Hund, Mutter pressten mich auf den Omasitz. „Zurücktreten!“

Draußen der rote Mantel, der rote Handschuh an ihrer Wange, die stummen roten Lippen. „Ach herrje“. Tür zu, keine Chance, Abfahrt.

 

Wenn die Dinge nicht so laufen wie geplant, ist jemand schuld. Jemand der den Plan nicht gelesen hat. Jemand der nicht mitdenkt. Jemand der Bus fährt. Der Auftraggeber ist mit seinem Produkt beschäftigt, ich mit der Vermarktung. Der Käufer soll kaufen, besser noch mal kaufen, noch besser auch glücklich sein. Ich war unglücklich.

 

Also plane ich das nächste Pre-Work-Date mit Kara. Unser E-Mail-Draht biegt sich glühend vor Lachen. Sie ist guter Dinge und gespannt auf meinen Vorschlag. Um externe Einflüsse zu minimieren und voranzukommen lade ich sie zum Zoom Video-Meeting ein. Termin 7:50, aus der Firma, schallisolierte Meeting-Einzel-Box gebucht, alle anderen Termine ab acht. Kein Außen, kein draußen, einfach zwei Menschen.

 

Ich bringe die Dinge ins Rollen. Nur ich weiß wann es rollt, wohin, wie schnell. Es drauf ankommen lassen, ha, wenn solche Menschen nicht wissen, was sie selber wollen, wie dann der Zufall, der Morgen?

7:45, im Büro ist kein Mensch, Homeoffice-Pandemie, vielleicht ruft sie aus dem Bett an? Frisur sitzt, Hemd korrekt, Kaffee gebrüht, jetzt zur Box.

Peng ich laufe mit der Tasse voran gegen die spiegelfreie Glastür. Autsch, der heiße Kaffee über mein Hemd. 7:49 Verbindungsaufbau. 7:51 Passwort Eingabe. 7:53, falsches Passwort. 7:54 Zoom Meeting beitreten. 7:55 Zoom Meeting wartet. 7:56 Bildaufbau. Endlich, Kara ist zu sehen, der Ton bleibt aus. Rote Lippen bewegen sich, dunkle Augen lachen und rollen nach oben. Hektisch scroll ich durchs Menü, Mikrofon an, wo? 7:59, „Hallo, hörst Du mich?“ 8:00 Der Presslufthammer im Nebengebäude rüttelt alle Hoffnung weg. 8:01 Ihre weiße Ohrmuschel im roten Handschuh horcht, der andere Handschuh wirft mir eine rote Kusshand zu. Winkt, lacht. Aus.

 

Dranbleiben ist im Marketing so wichtig, sagt die Sohle zum Schuh. Ja, ich habe am nächsten Morgen meine Sohlen überprüft, es sollte nichts dem Zufall überlassen sein. Das Café hatte ich gestern besucht, italienisch, solide, professionell, 8:00, Espresso, Cornetto, Pre-Work-Date.

Kara schüttelte vor Lachen alle E-Mail-Buchstaben durcheinander und ergab sich gespannt der Einladung zum inzwischen rituellen Morgen Treffen.

Ich saß am kleinen Bistro Tisch, kühl war es. Am Nebentisch fühlten sich vier alterslose Herren in dreiteiligen, guten gefüllten Anzügen wohl und nippten am Espresso. Es schien eher Corretto zu sein. Ich war sehr rechtzeitig gekommen, alle Marketinginstinkte waren geschärft, das Herz klopfte.

Die Herren plauderten.                

„Heute, was ist heute dein Plan?“ Fragte der Kleinere mit Vollbart.

„Ach Morgen, mal sehen, was Du so ins Rollen bringst bis 9:00.“ Erwiderte der Hektische mit der Glatze.

„Ha, gestern lief gar nichts bei ihm,“ spottete der Sportliche im Leinenanzug.

„Ich habe hier einen Ordner voller Wünsche, die heute Morgen ins Rollen gebracht werden sollen. Schafft keiner. Zu viel. Ich überlasse es lieber Dir, Zufall, merkt ja eh keiner.“

„Ach Morgen, mach dich doch nicht überflüssig, die Menschen hoffen doch.“ Womit der Kahle recht hatte.

„Hoffen? Besser planen, vorsorgen, realistisch sein, was dafür tun, das bringt Sachen ins Rollen.“ Empörte sich der Morgen. „Ich sehe mich eher als Genießer, Sonnenaufgang, Cappuccino, den Tag langsam dem Heute übertragen oder Dir, Übermorgen.“

Ich glaubte, ich höre nicht richtig und sprang auf, packte den Morgen am Kragen.

„Ich plane und plane und durch ihre Untätigkeit versaut der Zufall alles. Ziehen sie mein Projekt vor! Rollen Sie los! Hier im Ordner, Treffen, Theo und Kara!“

Der Morgen bog sich auf dem filigranen Bistrostuhl nach hinten, er ruderte mit den Armen, zwei Stuhl- und zwei Morgenbeine in der Luft. Da schlug die Turmuhr 8:00, ein Puff und alle drei waren weg. Tisch leer, nie was gewesen. Ich stand über dem verlassenen Stuhl, auf die Lehne gestützt, der Morgen fehlte und mir mein Gleichgewicht. Ich fiel zu den weiteren Klängen der Turmuhr in die venezianischen Schnörkel des Gestühls. Der rechte Arm knackte mit dem 8. Schlag. Das Tischtuch über mir dämpfte meinen Schrei unwesentlich.

Dank der frühen Morgenstunde kam der Krankenwagen schnell. Die Notaufnahme wartete scheinbar schon gelangweilt auf mich. Wie ein reibungsloser Plan ging es in einem Flow von der Aufnahme zum Röntgen, zum Verband, zum doppelten Schmerzmittel. Mit blankem Hintern im pastellenen Umhang flog ich träumend mit Kara in der warmen nachmittags Sonne, unbehelligt vom faulen Morgen, Hand-in-Hand, über grüne Wiesen dahin.

Spät wachte ich auf und staunte über den roten Plastikgips an meinem rechten Arm. Er war leicht und ließ drei Finger beweglich, ansonsten war ich äußerlich unversehrt. Hatte ich tatsächlich den Morgen beim Morgenkaffee belauscht und gepackt?

Pre-Work-Dates waren keine Sache, die wie Marketingmeetings am Abend mit dem letzten Eiswürfel im Martin Glas aus dem Hirn schmolzen. Kara hatte sich, dank oder trotz meiner verunglückten Strategie, schon fest etabliert. War ich verliebt?

Die Schwester maß Puls, Blutdruck, leicht erhöht und reichte mir meine Tasche. Karas E-Mail von 8:30 lass ich daher erst um 17:30. Sie entschuldigte sich, nicht zum Date kommen zu können.

Sie schrieb, auf dem Weg zum Café, sie war schon spät, musste der Bus plötzlich stoppen. Ein Krankenwagen kreuzte. Eine Mutter mit Kinderwagen, Kind, Roller und Labrador stürzte. Kinder schrien, Hund bellte, der Roller schwieg. Kara versorgte das geschürfte Knie und begleitete dann die Karawane nach Hause. Für das Pre-Work-Date war es da zu spät.

Ich war erleichtert, für Kara, für die Karawane und für mich, denn sie hätte kommen wollen.

Eine Verabredung für kommenden Morgen, zum Pre-Work-Date verschob ich auf ein After-Entlass-Date, auf übermorgen. Ihre Genesungswünsche las ich dem Gipsarm laut vor. Die Krankenschwester am Nachbarbett strich daraufhin weitere Schmerzmittel.

Ein neuer Tag und keine eigenen Pläne, da kann ja nichts schief gehen, dachte ich. Wie der Morgen empfohlen hatte, gab ich mich der Ruhe des Einzelzimmers hin, Telefon war aus, Frühstück ok, Fenster auf und Vögel sangen.

Dann rollte die Visite an, ich schloss die Augen und hörte zum Bild einer Gänseschar meinen Befund und den Termin CT 8:30. Die weißen Kittel verbargen, wer hier Gans oder Engel war, jedenfalls war ich medizinisch uninteressant und die Vögel raus. Schon brachte der Pfleger den Stuhl zum CT ins Rollen.

Im Besprechungsraum, am Schreibtisch geparkt, wartete ich auf den Arzt, die Tür hinter mir öffnete sich, der steife Kittel rauschte herein, die Tür fiel zu.

Mit Schwung wurde ich von Lachen und roten Handschuhen herumgedreht, ein Kuss auf meine Wange und Frau Dr. Kara Morgen rollte in mein Leben.