Von Karl Kieser

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde, denn der Brief mit meinen Träumen und Wünschen lehnte ja aufrecht vor ihrem Schminkspiegel.

Wie es so weit kommen konnte? Wie wäre es als Erklärung mit der symptomatischen Geschichte von vor einigen Wochen, die mir noch in lebhafter Erinnerung ist.

Draußen war angenehmes Sommerwetter. Nicht heiß, nur sehr wenig Wind, eigentlich kaum Luftbewegung. Ich hatte einen Spaziergang vorgeschlagen, damit wir beide etwas Bewegung bekämen. Bei so idealen Bedingungen fehlten ihr die Gegenargumente, wie: zu kalt, zu nass, zu windig und sie stimmte zu.
Also stand ich auf, wechselte in der Diele die Hausschuhe gegen Sandalen und ging schon mal hinaus. Vielleicht konnte ich auf der Garagenauffahrt noch etwas Grünzeug auszupfen, denn so schnell würde sie mir nicht folgen.
Das Unkraut ist eine meiner Aufgaben und der widme ich mich mit Hingabe. Täglich patrouilliere ich manchmal mehrfach über die Auffahrt und spähe nach dem verräterischen Grün. Ich glaube, die Nachbarn schütteln heimlich die Köpfe aber auf unserer Einfahrt werden die grünen Triebe nicht alt und in der Regel kann ich sie mitsamt den noch zarten Wurzeln ausrupfen.
Erstaunlicherweise finde ich immer etwas. Schon oft habe ich darüber gegrübelt, wieso ich ein Pflänzchen, so grün und schon so groß, vor wenigen Stunden noch übersehen konnte. 

Inzwischen war ich wieder bei der Haustür angekommen. Ich warf einen kurzen Blick in die Diele und lauschte. Von meiner Frau weder optische noch akustische Anzeichen.
Ich zügelte meine Ungeduld, drückte nicht auf den Klingelknopf und wandte mich dem Vorgarten zu.
Bei der letzten Umgestaltung haben wir, unseres Alters wegen, darauf geachtet, dass er pflegeleicht, aber trotzdem attraktiv ist.
Da ist zum Beispiel ein aufrechter Wacholder von interessantem Wuchs, den wir „unseren Bonsai“ nennen und der von mir liebevoll gestutzt wird.
Damit sein reizvolles Aussehen auch zur Geltung kommt, steht er allein auf einer freien Fläche, die mit feinkörniger Pinienrinde abgedeckt ist. Freie Flächen sind bei Unkräutern ja sehr beliebt. Daher forsche ich auch hier immer mit Adlerblicken nach verräterischem Grün.
Bald hatte ich die freie Fläche von einigen hoffnungsfrohen Trieben abgeerntet und warf einen weiteren erwartungsvollen Blick Richtung Haustür.
In mir begann es leicht zu brodeln, denn dort rührte sich immer noch nichts.
Na gut. Bürgersteig und Straßenrinne konnte ich auch noch inspizieren. Erst kürzlich wurden die Einwohner im Gemeindeblättchen daran erinnert, dass diese Flächen von den Anwohnern sauber zu halten sind. Im Geiste notierte ich, dass ich mich nach dem Spaziergang um mehr Zuwendung für diesen Teil bemühen sollte. Im Augenblick war mir das zu aufwendig, denn dafür hätte ich Besen, Kehrblech und Handfeger aktivieren müssen.

Ganz plötzlich riss mein Geduldsfaden. So lange brauchte doch niemand, um sich die Schuhe zuzubinden. Ich marschierte zurück und möglichst leise durch das Haus. Ich hoffte darauf, sie dabei zu ertappen, wie sie sich heimlich mit ihrem aktuellen Buch niedergelassen hatte. Das war ganz sicher wieder ein Versuch, mich mit meiner Ungeduld zu reizen.

Doch sie saß vor ihrem Schminkspiegel und probierte, ihren Strohhut in immer neuen Positionen so aufzusetzen, dass es keck aussah, aber der Frisur möglichst kein Härchen krümmte.

Enttäuscht, sie nicht beim Lesen erwischt zu haben, knurrte ich mit gezügeltem Zorn: „Was ist los? Seit einer halben Stunde warte ich wie ein Depp, dass du endlich erscheinst.“

Sie drehte sich seelenruhig zu mir um und musterte mich erstaunt. Dann kam, womit sie mich immer wieder auf die Palme bringt:
„Du übertreibst wieder mal maßlos. Wenn der Herr ausnahmsweise der Meinung ist, sich bewegen zu müssen, dann kann ich nicht in derselben Sekunde aufspringen und hinausstürzen. Ich bin nicht mehr so schnell auf den Beinen und es ist nicht nur der Rücken. Darauf solltest du eigentlich Rücksicht nehmen. Außerdem muss ich mich etwas herrichten, bevor ich aus dem Haus gehe. Was sollen sonst die Nachbarn denken? Es ist schon schlimm genug, wenn du tagein tagaus wie der letzte Penner herumläufst.
Außerdem habe ich nicht vergessen, dass du dich bei unserem Kennenlernen über meine angeblich unangebrachte Kleidung mokiert hast. Und du könntest dir auch ein Beispiel an unserem Nachbarn nehmen, der immer ein kleines Kompliment für mich hat, wenn wir uns begegnen.“

„Ja, ja, schon gut. Immer gräbst du alte Kamellen aus, die ich schon mehrfach vergessen  habe. Und willst du mir etwa erzählen, dass du den alten Schleimer von nebenan ernst nimmst?
Also, wann bist du endlich soweit? Oder kann ich vorher noch eine Fahrradtour machen?“

„Du musst gar nicht so sarkastisch tun. Ich bin fertig! Muss nur noch auf die Toilette. Oder hast du auch vergessen, dass ich ein Problem mit der Blase habe? Dann nur noch die Wanderschuhe und schon kann’s losgehen.“

„Mein Gott, wir machen einen Spaziergang durch unsere Siedlung. Wozu brauchst du da Wanderschuhe?“

Ich habe nicht vergessen, dass du einmal unbedingt die Abkürzung über den Wiesenpfad nehmen musstest. Das Gras war nass und der Boden schlammig. Das hat beinahe meine neuen Schuhe ruiniert.“

„Das muss ja Jahre her sein. Aber das ist mal wieder typisch, dass du Schnee von vorgestern aufwärmst. Wir sind seit Ewigkeiten nicht mehr über den Wiesenpfad gelaufen. Außerdem hat es seit Tagen nicht geregnet.
Sag’s doch, wenn du keine Lust hast.“

„Ich glaube, du suchst Streit. Wie immer. Alle müssen springen, wenn dem Herrn etwas durch den Kopf geht. Weißt du was? Geh‘  mal lieber allein. Ich kann dir ja doch nichts recht machen.“

Um nicht noch mehr Porzellan verbal zu zerschlagen, machte ich auf dem Absatz  kehrt und bin dann in forciertem Tempo spaziert. Voll Zorn und Enttäuschung.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Kopf wieder frei hatte. Und dann war mir die Idee mit dem Brief gekommen.

Es fiel mir nämlich immer schon schwer, mit meiner Frau ein klärendes Gespräch zu führen. Ich habe es oft versucht. Sie auch, aber entweder der Zeitpunkt stimmte nicht oder der emotionale Zustand bei einem von uns war zu spannungsgeladen. Viel zu schnell gerieten wir in das gefährliche Fahrwasser gegenseitiger Vorwürfe. Meine Ungeduld war bei so einem Gespräch auch hinderlich.
Ich kenne ja diese Schwäche. Aber obwohl ich versuchte, mich zusammenzunehmen und geduldig zuzuhören, platzte mir manchmal der Kragen. Sie hat nämlich die Eigenheit, bei Erklärungen sehr weit auszuholen. Dabei bringt sie längst vergessene Dinge zur Sprache, die mit dem aktuellen Problem nicht das Geringste zu tun haben. Ist das etwa nicht zum Aus-der-Haut-Fahren?

Das geht nun seit vielen Jahren so. Eigentlich sollte ich mich daher schon längst daran gewöhnt haben. Ich will mich aber nicht aufgeben. Ich mache schon genug Zugeständnisse. Aber ich will auch fair bleiben. 

In dem Brief hatte ich mir daher meine Vorstellungen über unser Leben von der Seele geschrieben. So blieb mir die Zeit, alles deutlich und ohne Zorn zu formulieren. Und ihr gab es die Muße, sich in Ruhe damit auseinanderzusetzen. Auch meine Schwächen hatte ich nicht verschwiegen. Ebenso wenig wie mein Bedauern darüber, ihr meine Zuneigung nicht mit der gewünschten Leidenschaft zeigen zu können.

Der erwartungsvolle Morgen liegt nun schon Tage zurück. Kam also etwas ins Rollen, gar in meinem Sinne?
Natürlich hatte sie den Brief gelesen. Tagelang wartete ich darauf, dass sie das Gespräch eröffnete. Gelegentlich machte sie Bemerkungen, die sich auf den Inhalt bezogen. Aber so richtig ins Rollen …
Inzwischen habe ich das Gefühl, dass unser Verständnis füreinander gewachsen ist und die Alltagsreibereien mildert.
Kann ich mehr erwarten nach über 50 Ehejahren?

 

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