Von Manuel Fiammetta
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Wie so oft im Leben kam es aber zunächst anders, als ich dachte. Der Morgen begann nämlich mit starken Kopfschmerzen. Die habe ich hin und wieder, meist einseitig, rechts und bis ins Auge ziehend. Der Schmerz brachte mir Übelkeit. Ich schaute wie durch einen Vorhang und jeden meiner Schritte begleitete ich mit einem leisen Stöhnen.
Der erste Gang nach dem Aufstehen führte mich an den Medizinschrank. Hier erhoffte ich mir die Rettung in Form einer Schmerztablette – doch Pustekuchen, ich hatte keine mehr.
Die Band, die in meinem Kopf gerade ein Heavy-Metal Konzert spielte, war bei ihrem nächsten Song angelangt. Es blieb mir nur eine Wahl: ab zur Apotheke.
Dabei hatte ich für heute doch ganz andere Pläne.
„Guten Morgen, Jochen. Na, heute Frei?“
´Der Franz… Der fehlte mir noch, dachte ich mir.´
Franz war die Art von Nachbar, die wahrscheinlich jeder in seiner Siedlung hat. Einer der dich besser kennt, als du selbst und das dann auch jedem mitteilen muss. Sein aufdringliches Aftershave strömte in meine Nase und verstärkte meine kopfschmerzbedingte Übelkeit.
„Moin, Franz. Genau, hab´ heute Frei und eigentlich auch gar keine Zeit …“
„Hast du das gestern Abend mitbekommen, wie sich die Müllers wieder gestritten haben? Jedes Wort konnte man verstehen. Schlimm sowas.“
´Wenn man auch mit dem Ohr an der Haustür klebt, ist es kein Wunder, dass man jedes Wort versteht.´
„Nein, Franz, ich habe nichts gehört. War wohl zu beschäftigt. Hier, ich muss jetzt wirklich …“
Franz blickte auf seine Uhr. „Ach du liebe Zeit, ich muss ja auch los. Habe heute einen Termin beim Urologen. Die Prostata. Ich gehe da jetzt einmal im Jahr hin und lass´ mich durchchecken. Der Thorsten aus dem 4. Stock geht auch zum Dr. Meier. Der ist richtig gut. Nimmt sich echt viel Zeit für dich. Den kann ich dir nur empf …“
„Franz, wir sehen uns“, rief ich ihm noch zu, während ich loslief.
Bevor ich zur Apotheke ging, sagte mir mein Portemonnaie, dass ich Geld brauchte. Ich zahle kleine Beträge ungern mit der Karte und so eine Packung Schmerzmittel kostet ja nicht viel. Glücklicherweise befand sich die Apotheke in der Nähe einer Sparkasse.
Meine Pechsträhne setzte sich jedoch fort, denn von den drei Geldautomaten, waren zwei defekt und vor dem einzig funktionierenden befand sich eine lange Schlange.
Der Piepton beim Drücken der Tasten bohrte sich in meinen Kopf. Die Band darin fühlte sich angespornt, noch lauter zu spielen.
Zu allem Überfluss stand direkt vor mir ein Typ, der lauthals in sein Handy schrie. Ich weiß nicht, ob er sein Telefon gebraucht hätte. Vermutlich hörte sein Gesprächspartner ihn auch ohne.
Nun war er an der Reihe. Anstatt aber jetzt mit dem Telefonieren aufzuhören und sich auf den Vorgang am Automaten zu konzentrieren, laberte der Typ einfach weiter. Natürlich vertippte er sich und brach seinen ersten Versuch ab.
Ich atmete ein bisschen lauter aus und klopfte mit meinem Fuß ein paar Mal ungeduldig auf den Boden, um eine Reaktion meines Gegenübers zu erzwingen – doch Pustekuchen, der Typ rührte sich nicht. Erst nach einem lauten Räuspern, drehte er sich zu mir um.
„Is´ was, Bro?“, fragte er mich mit diesem Assi-Slang, den ich überhaupt nicht leiden kann. Bei dem man anstatt ch sch sagt und nur so mit Kraftausdrücken um sich wirft.
Ich schüttelte mit einem gelangweilten Blick den Kopf, was ich aber besser nicht hätte machen sollen. Die Band wurde sauer und spielte noch lauter. Ich musste beinahe würgen.
„Is´ auch besser für disch.“
´Ha, wusste ich es doch, sch´.
Am liebsten hätte ich dem Typen sein Handy aus der Hand gerissen und so fest gegen die Wand geworfen, dass es in sämtliche Einzelteile zerfallen wäre. Ich ließ es jedoch bleiben.
Nachdem er endlich fertig war, sah er mich nochmal böse an, ging dann, natürlich weiterhin ins Telefon quakend, aber seines Weges.
Die Sonne knallte nur so vom Himmel. Dummerweise vergaß ich meine Sonnenbrille und so musste ich mit zugekniffenen Augen meinen Weg fortsetzen. Das grelle Licht schien mir trotzdem durch die Augen bis ins Gehirn und verschlimmerte meine Kopfschmerzen.
„Ihre Blutdrucktabletten kann ich Ihnen bis heute Abend bestellen. Sollen wir sie Ihnen nach Hause liefern, Frau Scheidt?“
Die alte Dame hielt sich mit einer Hand an ihrem Rollator fest und mit der anderen am Apothekentresen.
„Die haben sie nicht da?“, vergewisserte sich die Dame.
„Bis heute Abend haben wir sie. Möchten Sie die Tabletten hier abholen oder sollen wir sie liefern.“
Es vergingen ein paar Sekunden. Vermutlich verstand die ältere Dame die Apothekerin aus Altersgründen nicht mehr so gut und überlegte nun, was sie wohl gesagt haben könnte.
Mit einem „Wir bringen sie Ihnen, Frau Scheidt“, unterbrach Frau Holsten, wie ich dann später an ihrem Namensschild ablesen konnte, die Stille. Meine Hoffnung war geweckt, endlich gleich dran kommen zu können – doch Pustekuchen.
Die Dame hatte noch ein Anliegen und kramte dafür in dem Beutel an ihrem Rollator. Mit der abgerissenen Seitenlasche einer Medikamentenverpackung kam ihre Hand wieder hervor.
„Haben sie dieses Mittel?“
Frau Holsten tippte auf ihrer Tastatur herum.
„Leider nein, Frau Scheidt. Könnte ich Ihnen aber ebenfalls bis heute Abend bestellen und liefern lassen.
´Das kann doch nicht wahr sein. Gummibärchen und Shampoo haben sie hier en masse, aber Medikamente… Gut, wer könnte auch meinen, dass man in einer Apotheke Arznei bekäme.´
„Um wieviel Uhr wäre das denn?“
„So gegen 18:30 Uhr. Passt das für Sie?“
Die Band in meinem Kopf beanspruchte gerade wieder meine volle Konzentration. Ich nahm nur noch wahr, dass die Dame mit ihrem Rollator an mir vorbeilief.
„Der Nächste, bitte.“
„Ich brauche eine Packung Ibos. 600er.“
„Haben Sie ein Rezept?“
„Sind die nicht frei verkäuflich?“
„Nur bis 400mg.“
„Dann nehme ich die. Wenn ich davon zwei Tabletten gleichzeitig nehme, brauche ich dann auch ein Rezept?“
Mit leicht säuerlichem Gesichtsausdruck lief Frau Holsten zu einem dieser herausziehbaren Schränke und holte mir die Schmerztabletten.
„Sie kennen die tägliche Maximaldosierung?“
Ich nickte vorsichtig. Wollte die Band nicht erneut verärgern.
Mein Gang führte mich hernach zum Supermarkt. Dieser lag auf dem Weg zurück nach Hause. Doch jede Sekunde eher, in der eine Tablette in meinen Körper gelang, war eine gute. Von daher brauchte ich etwas zu trinken.
Ich war voller Vorfreude, gleich endlich etwas gegen meine Kopfschmerzen nehmen zu können, als plötzlich eine helle Frauenstimme durch den Laden schrie: „Justin. Justin. Komm´ sofort hierher.“
Höre ich diesen Namen, werden in mir zwei Assoziationen geweckt. Entweder, denke ich an Justin Timberlake oder an Justin aus Mitten im Leben auf RTL2, der, in einem Plattenbau lebend, nichts zustande bekommt und mit achtzehn schon dreifacher Vater ist.
Als ich dann die Mutter nicht nur hörte, sondern auch sah, tendierte ich zu dem Plattenbau-Justin.
So ziemlich alles an ihr war künstlich – Nägel, Haare, Wimpern, Teint, Brüste. Dazu war sie völlig überschminkt und zum Einkaufengehen overdressed gekleidet.
Justin, der den ganzen Laden unsicher machte und nur geringfügig auf seine Mutter hörte, kam um die Ecke gerannt, knallte gegen mich und fing lauthals an zu heulen.
„Können Sie nicht aufpassen!“, raunte mich die Olle an.
´Ich?´, dachte ich, ´pass´ du mal lieber auf deinen Justin auf´.
Sie nahm ihn hoch und versprach ihm ein Überraschungsei, wenn er jetzt mit dem Weinen aufhören würde. Mich sah sie verächtlich an und ging weiter. Wie echt das Weinen des armen Justin war, bewies er, als er mir, auf dem Arm seiner Mutter sitzend und nach hinten schauend, seine Zunge rausstreckte und grinste.
Mit meiner Flasche Wasser an der einzigen geöffneten Kasse stehend, war die Band in meinem Kopf wohl bei ihrem letzten Stück angelangt. Das ist ja oftmals das lauteste und wildeste. Da hauen sie nochmal alles raus.
Jemand aus der Schlange fragte vorsichtig, ob man denn noch eine zweite Kasse öffnen könne – doch Pustekuchen.
Ich spürte einen Hauch in meinem Nacken. Ich bin ja wirklich ein genügsamer Mensch, aber wenn ich eines echt nicht ausstehen kann, dann sind das fremde Leute, die mir in den Nacken atmen.
´Das war das Tolle an den Corona-Maßnahmen: die Abstandsregel, das Tragen eines Mundschutzes und das verpflichtende Mitführen eines Einkaufwagens.´
Während ich mich zu diesem Menschen umdrehte, quetschte sich Justin zwischen uns durch und kam erneut zu Fall.
„Justiiin“, schrie die Olle. Als sie bemerkte, dass ihr Sohn neben mir lag und wiederholt lauthals anfing zu heulen, beschimpfte sie mich aufs Übelste. Sämtliche, aus unzähligen RTL2 Sendungen gelernte Worte, warf sie mir an den Kopf. Es fehlte eigentlich nur noch eine Ohrfeige.
Der Typ, der mir in den Nacken blies, sah dem ganzen Treiben mit dem IQ eines schimmelnden Brotes zu.
Ich öffnete die Flasche, nahm zwei Tabletten aus der Packung, einen großen Schluck aus der Pulle und spülte alles die Kehle runter.
Während die Olle mich weiter mit Worten traktierte, Justin weiter schrie und der Typ weiter dümmlich dreinschaute, stellte ich die Flasche auf den Boden, lief zur Kassiererin, legte ihr einen Euro hin und verließ den Laden.
Zuhause angekommen, legte ich mich erstmal hin.
Werde dann morgen alles ins Rollen bringen und Chiara meine Liebe gestehen. Mal sehen, wie sie reagiert. Und ihr Lebensgefährte Markus. Mein Bruder.
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