Von Sylvia Frank
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Morgen! Morgen wird dieser Tag sein! Ich kann es kaum erwarten!
Erstmal heißte es jetzt, ab zum Kellerfenster, bevor die Wache kommt. Höre ich da etwa schon Schritte? Da ist es ja, oh – ha, hoffentlich kann ich mich da durchzwängen, das ist ja mal eng. Bloß nicht hängenbleiben mit dem Mantel! Konzentration, Archi!
Puh, das war knapp! Jetzt aber nichts wie weg! Das Occulus brauche ich auch nicht mehr, fällt auf der Straße nur auf.
„Oh, ich habe Zuschauer! Nein? Sie sind Leser und fragen sich, wer ich bin und was ich mitten in der Nacht in dieser dunklen Gasse mache.“ Das könnte ich die Leser allerdings auch fragen, aber da ich ein Gentleman bin, mache ich es nicht.
„Nun, werte Leser, ich beantworte selbstverständlich gerne Ihre Fragen, aber zunächst sollten wir sehen, dass wir hier wegkommen. Vertrauen Sie mir! Es ist besser für alle. Wir brauchen eine Droschke. Dazu ist ein Fußweg durch die – zugegeben, nicht sehr angenehmen – Straßen dieses Viertels nötig. Also – mir nach!
Nebel zieht auf, das ist ganz hervorragend! Sie kennen das ja: Da wird aus dem kleinsten Hauch eine dicke Wand – eine bessere Tarnung können wir uns nicht wünschen, glauben Sie mir. Ah, ich meine, da vorne Gaslicht flackern zu sehen, das muß eine Droschke sein.“
Tatsächlich schiebt sich eine Dampfdroschke durch die Straße. Das Hufgetrappel wird vom Nebel verschluckt, der Lampenschein kämpft sich jedoch durch.
„Anhalten! Zur Bishops Avenue!“
„So, werte Leser, da haben wir Glück, eine Dampfdroschke bekommen zu haben. Da haben wir es warm. Regen und Sturm lassen einen die beheizte Kabine zu schätzen wissen, glauben Sie es mir.
Jetzt gönnen wir uns einige Momente der Entspannung. Mal sehen, was die Uhr sagt, wo hab´ich sie denn? Es ist wirklich recht spät geworden, schon weit nach Mitternacht! Sollte mich jemand in der Gasse gesehen haben, werde ich behaupten, ich habe den Abend in einem der Etablissements verbracht, die in diesem Viertel zu finden sind. Nelly, eine der Damen dort, wird das dann gerne bestätigen. Sie arbeitet schon sehr lange für mich. Oh, um Gottes willen, nicht, was Sie denken! Sie ist zuverlässig, verschwiegen und versorgt mich mit Informationen. Ja, ich sehe die Fragezeichen in Ihren Gesichtern. Gedulden Sie sich, gleich sind wir da, dann beantworte ich Ihre Fragen so gut ich es vermag bei einem Whisky am Kamin.
Da sind wir schon, folgen Sie mir! Vorsicht mit den Stufen, die sind im Nebel tückisch. Und tote Leser wollen wir doch nicht, oder?“
Die große, elegant verzierte Eingangstür öffnet sich wie von selbst. Im Rahmen erscheint ein Butler, ernst und anscheinend nicht sehr erfreut über die Gäste.
„Guten Abend, Sir. Guten Abend, die Herrschaften.“
„Guten Abend, Winters. Sehen Sie nur, wen ich mitgebracht habe: Einige Leser, die mich beim Verlassen des Fabrikgeländes erwischt haben, und denen ich jetzt Rede und Antwort stehen soll. Ich glaube, Whisky in der Bibliothek und später Tee würden uns dabei helfen.“
„Sehr wohl, Sir. Sir, Lady Amber hat telegraphiert.“
„Oh, wunderbar! Was gibt es Neues von ihr? Oh, sprechen Sie frei. Unsere geneigten Leser dürfen das gerne erfahren.“
„Sehr wohl, Sir. Die Lady läßt ausrichten, sie habe noch einen Platz im Nachtzeppelin buchen können, der um 4 Uhr landet. Sie möchte sich sofort auf den Weg hierher begeben. Ankunft gegen 4.30, spätestens 4.45 Uhr. Die Lady konnte genau den Tisch besorgen, nachdem Sie gesucht haben. Er ist beschädigt, aber dennoch in gutem Zustand.“
„Hervorragend, Winters! Nun aber zu unserem Whisky, die Gäste werden schon ungeduldig.“
„Bitte, werte Leser, nehmen Sie Platz!“
In der großzügigen Bibliothek stehen bequeme Sessel rund um den dampfbetriebenen Kamin, in dem künstliche Flammen züngeln. Anbarische Lampen verbreiten ein gemütliches Licht.
„Ich hoffe, der Glenmorangie Single Malt, den Winters uns da serviert, entschädigt für die Unannehmlichkeiten. Oh, Winters, sehr aufmerksam: Die Damen wissen sicher einen guten Sherry zu schätzen. Vielen Dank, Winters. Tee in einer Stunde, bitte.“
„Sehr wohl, Sir.“
„Werte Leser, nun ist es wohl an mir, Ihre Fragen zu beantworten. Mein Name ist Archibald Hamper-Briggs. Die Lady – Lady Amber Scottsmovern – und ich gehören einer Geheimorganisation an, die direkt der Königin unterstellt ist. Wir sind ausschließlich der Königin und dem Empire verpflichtet. Der Schutz der Königin und unseres Weltreichs ist unsere vorrangige Aufgabe. Das Sammeln von Informationen ist dabei unerläßlich. Gerade die Lady hat als Gattin von Lord Scottsmovern, einem erfolgreichen Fabrikanten und Minister, der Gottseidank viel auf Reisen ist, beste Möglichkeiten.
Auf die Art haben wir erfahren, dass die Deutschen wieder einmal den Versuch einer Invasion unternehmen wollen. Ebenfalls in Erfahrung bringen konnten wir, dass es einen Verräter in unseren Reihen gibt. In ebenjener Fabrikhalle, an der Sie mir begegnet sind, werden seit ein paar Wochen Maschinenteile, aber auch Sprengstoff gelagert. Aus zuverlässiger Quelle wissen wir, dass neben der Produktion von automatischen Soldaten auch Giftgas hergestellt werden soll.
Ich sehe in ungläubige Gesichter. Ja, die Deutschen sind dreist geworden, man kann es kaum glauben!
Zuerst überlegten wir, die Dampfzüge aufzuhalten, mit denen die Materialien transportiert werden. Das erschien uns zu kurzsichtig. Gestern nachmittag nun wurden die letzten Teile geliefert. Meine Aufgabe am gestrigen Abend war es, spezielle Sprengladungen anzubringen. Der Spezialsprengstoff ist genau dosiert, Winters ist ein Meister seines Fachs – im Gegensatz übrigens zu einem seiner Schüler, wie Sie unschwer an Winters mechanischem Arm erkennen können. Die Fabrik samt Beständen wird dem Erdboden gleichgemacht. Das wird in – wir haben kurz vor drei Uhr nachts – vier Stunden, um genau 7 Uhr, der Fall sein. Die Vernichtung der Fabrik und gezielt platzierte Falschmeldungen werden die Dinge ins Rollen bringen, und die Deutschen zwingen, den Verräter preiszugeben. Das Deutsche Kaiserreich wird eine Niederlage ohnegleichen einzustecken haben!
Jetzt fragen Sie sich natürlich noch, was es mit dem Tisch auf sich hat, nachdem die Lady für mich suchen sollte. Nun, das ist ein Code. Tisch bedeutet Person, Kommode Gegenstand und Teeservice Informationen. Die Lady hat also eine von uns gesuchte Person ausfindig gemacht. Beschädigt, dennoch in gutem Zustand bedeutet: Sie hatte interessante oder wichtige Informationen, aber der Gute – meistens sind es ja Männer – wird zukünftig nicht mehr aktiv am Leben teilnehmen. Sie sind schockiert? Nun, die Lady ist nicht zimperlich …
Ihr habe ich auch die Bekanntschaft einer sehr exklusiven Freundin zu verdanken. Der neue Tag wird heraufziehen, es dauert nicht mehr lange. Wir werden noch einiges zu tun haben, aber am Ende werde ich mit der Lady und unserer gemeinsamen Freundin, der Grünen Fee, unseren Sieg feiern.
Wie? Sie möchten uns Gesellschaft leisten? Aber bitte, ab 20 Uhr sind Sie herzlich willkommen. Meine Adresse kennen Sie ja.“
6427 Zeichen, 1. Fassung