Von Björn D. Neumann
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde. Es war der 10. Juli im Jahre des Herrn 1302. Von Weitem war das Feldlager unserer französischen Feinde zu sehen. Wie Funken tanzten die Flammen der Lagerfeuer in der Ferne, und der Wind trug die heiteren Gespräche und gesungenen Lieder einer Armee herüber, für die der Sieg nur eine Formsache war. Wir waren zu weit gegangen. Keine zwei Monate war es her, als die Brügger Bürger ein Massaker an den Franzosen innerhalb der Stadtmauern begingen. Weder Soldaten, Beamte noch Frauen und Kinder wurden geschont. Wer die flämische Losung „Schild en Vriend“ nicht akzentfrei aussprechen konnte, war des Todes. Es war eine erbarmungslose Metzelei, heraufbeschworen durch die eiserne Hand des französischen Statthalters Jaques de Chatillon. Und Gott stehe mir bei – ich war mitten unter der Mörderbande. Geleitet von blinder Wut und Raserei, aufgestachelt von den Rädelsführern de Coninck und Breydel, folgte ich dem wütenden Mob. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Grafschaft Flandern. Gedemütigt durch die Inhaftierung unseres Grafen und seiner Söhne, ausgepresst durch immer höhere Steuern und Bußen des französischen Königs, begehrten die Bürger der freien Städte auf. Ypern und Gent folgten unserem Beispiel und nun standen wir hier vor Kortrijk, das immer noch unter Besatzung stand und von uns befreit werden sollte. Und genau hier stellte uns das französische Heer.
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Matthijs, mein Freund. Träumst du?“
Es war Jean d’Oetingen. Ein flämischer Ritter, Mentor und Freund. Als ich noch ein Junge war und im Fischerdorf bei meinen Eltern in Wenduine lebte, rettete ich dem verletzten Ritter am Strand das Leben. Meine Familie nahm ihn bei sich auf und pflegte ihn gesund. Dann war er es, der mich rettete, als die französischen Häscher nach ihm suchten und alles, was mir lieb und teuer war, zerstörten.
Jean setzte sich neben mich und reichte mir seinen Weinschlauch. „Wir haben unseren eigenen Untergang beschworen. Vielleicht ist das unsere letzte Nacht“, antwortete ich und nahm einen großen Schluck und gab den Wein an meinen Freund zurück.
„Möglich“, erwiderte Jean. „Zwar sind wir in der Überzahl, aber dort stehen hunderte ausgebildeter Ritter. Wir zählen gerade einmal zwölf.“ In dem Moment als ich protestieren wollte, schien Jean meine Gedanken zu lesen, und fügte hinzu: „Nein, ich spreche euch nicht den Mut ab. Allein, dass ihr hier seid, dass ihr so weit gekommen seid, ist heldenhaft. Aber dort drüben ist die Blüte der französischen Ritterschaft versammelt. Krieger, die ihr ganzes Leben nur für diese Schlachten ausgebildet wurden. Wir brauchen ein Wunder! Leg‘ dich nun schlafen, Matthijs. Morgen sollten wir alle ausgeruht sein.“
Natürlich schlief ich nicht. Und natürlich hoffte ich auf das Wunder.
Am frühen Morgen versammelten wir uns um unsere Befehlshaber. Wir wurden angewiesen, entlang des Groeninge-Baches Gruben auszuheben und danach hinter dem Bach Stellung zu beziehen. Ungläubig blickten wir uns an.
„Das ist eine Mausefalle! Dann sind wir umringt vom Groeninge-Bach und im Rücken der Lys. Da gibt es kein Entkommen für uns!“ Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.
Da ergriff Jan Breydel das Wort. Der Fleischer und einer der Anführer der Bürger-Milizen hob den Arm und bedeutete den Anwesenden, ruhig zu sein. „Wohin willst du fliehen, Wim? Hier und heute entscheidet sich unser Schicksal. Verlieren wir, gibt es kein Zuhause mehr, wohin wir zurückkehren könnten. Wir stehen hier nicht allein, um Graf Guidos Besitzansprüche durchzusetzen. Wir stehen hier für uns. Für unsere Freiheit. Für Flandern!“ Ein Ritter im gelben Wappenrock mit flämischen Löwen trat neben ihn, zog sein Schwert aus der Scheide, reckte es empor und rief: „Für Flandern!“
Es war Wilhelm von Jülich, der Befehlshaber der flämischen Truppen. Ihm traten elf weitere Ritter, darunter Jean, an die Seite und taten es ihm gleich. Die Menge fing an zu jubeln. Auch wir Städter reckten unsere „Goedendags“, keulenartige Holzstecken mit eisenbewehrter Spitze, in die Luft und wiederholten den Schlachtruf. „Für Flandern!“ Dass es auf einem Schlachtfeld weder Ruhm, noch Ehre, weder in der Niederlage, noch im Sieg, zu finden gibt, war uns Narren zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Blut, Schreie und schlaflose Nächte für den Rest unserer Leben, sollten der einzige Lohn sein, den wir erhielten.
***
Also bezogen wir unsere Schlachtordnung. Ein Heer der zusammengewürfelten Namenlosen. Ein Flickenteppich aus zerbeulten Helmen, geflickten Wämsern und rostigen Waffen. Und der Anblick, der sich uns bot, war imposant. Die blankpolierten Rüstungen der französischen Reiterei glänzten in der Mittagssonne des heißen Julitages. Bunte Wimpel tanzten an den langen Lanzen im Wind. Flaggen und Wappenröcke in allen Farben zeugten von der edlen Herkunft unserer Widersacher. So warteten wir, dass sich die französische Schlachtordnung in Marsch setzte. Zu unserer Überraschung rückte eine kleinere Einheit vor. Entsetzt erkannten wir schnell, dass es sich dabei um die gefürchteten Genueser Armbrustschützen handelte, die angeheuert in König Philips Diensten standen. Schon zischten uns die Bolzen um die Ohren, unterbrochen von den dumpfen Aufschlägen, wenn einer von ihnen auf einen Leib traf und ein Kamerad schreiend zu Boden sank. Schritt für Schritt wichen wir zurück, wohl wissend, dass in unserem Rücken der Fluss eine natürliche Grenze bildete. Sollte das das jähe Ende unseres Kampfes sein?
Verblüfft stellten wir fest, dass die Schützen nicht nachrückten. Stattdessen machten sie den Weg frei für die Reiterei der Lilien. Offenbar wollte der Graf von Artois, Oberbefehlshaber des königlichen Heeres, kurzen Prozess machen. Ein schwerwiegender, ein entscheidender Fehler. Und um uns den letzten Mut sinken zu lassen, ließ er die „Ori-Flamme“ hissen. Das Zeichen, dass keine Gnade gewährt und keine Gefangenen gemacht werden.
Wie ein einziges stählernes Ungetüm galoppierte das Unheil auf uns zu – die Lanzen wurden gesenkt – und die erste Reihe fiel in die von uns ausgehobenen Wolfsgruben. Die Reiter dahinter mussten verlangsamen, hatten dann aber nicht genug Tempo, auf dem sumpfigen Geläuf den Bach zu überspringen. Pferde fielen, Ritter stürzten und das Morden begann. Die Bäuche der Pferde wurden mit den Pieken aufgeschlitzt, hilflose am Boden liegenden Rittern der Schädel gespalten. Das Wasser des Groeninge-Baches färbte sich blutrot. Ritter schrien verzweifelt nach hinten, den Angriff zu stoppen, wurden aber von den eigenen nachrückenden Truppen immer weiter in diesen Mahlstrom des Todes gedrängt. Mein Blick war blutverschleiert und ich hieb wie von Sinnen weiter und weiter auf die Wellen der Angreifer ein. Vor mir kniete ein Ritter. Er öffnete das Visier seines Helmes, hob mir beschwörend seine Arme entgegen. Er mag kaum sechzehn Jahre alt gewesen sein. Ich zögerte, die Waffe zum tödlichen Schlag ausgeholt, als sein flehender Blick brach und die Spitze eines Goedendags aus seiner Brust herausbrach.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden es so weiterging. Die Franzosen warfen uns alles entgegen, was sie hatten und plötzlich brach der Sturm ab. Ich sank auf die Knie und übergab mich, schloss die Augen und weinte bitterlich. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich, unter all den Toten, in das Gesicht des jungen Ritters, und der Anblick brannte sich für alle Zeit in mein Gedächtnis.
Am Abend besuchte mich Jean erneut im Lager. Er legte mir, ohne ein Wort zu sagen, die Hand auf die Schulter und setzte sich neben mich. Schweigend starrten wir so Minuten ins Lagerfeuer.
„Ist es immer so?“, fragte ich in die Stille.
Wortlos nickte Jean, als würden ihm gerade die alptraumhaftesten Bilder erscheinen.
„Hast du deshalb den Templern den Rücken gekehrt?“
Und dann begann Jean zu erzählen. Er erzählte von den grauenhaften Geschehnissen im Heiligen Land. Von den Gräueltaten, begangen von beiden Seiten. Den Alpträumen, die ihn jede Nacht schweißgebadet aufschreckten. Über Freunde, gestorben in seinen Armen und einer Liebe, die er zurücklassen musste. Er schloss mit den Worten, die sich bis heute in meine Seele gebrannt haben:
„Ruhm und Ehre findest du nicht auf dem Schlachtfeld. Das sind Begriffe, erfunden von den Mächtigen, um dir eine Legitimation für Mord und Totschlag zu geben. Es gibt nichts Ehrenhaftes daran, jemanden aus irgendeiner Überzeugung zu töten. Noch ist es ruhmreich, sein Leben für falsche Interessen zu opfern. Nicht für Gott, nicht für König, nicht für Land. Am Ende heben wir doch nur das Schwert, um unser kleines, armseliges Leben und das derer wir lieben, zu schützen. Als Schild und Freund. Nicht weniger, aber vor allem auch nicht mehr. Denke immer daran, wenn dir irgendwer sagt, du müsstest wegen diesem oder jenem kämpfen.“
Nach diesen Worten verließ er mich, das Lager, Flandern. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
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