von Anne Zeisig

Sina umarmt ihren Vater stürmisch: “Papa! Du bist der größte! Ein Mofa zum Fünfzehnten. Wow!” Sie schnappt sich ihre Frühstücksdose vom Esstisch, klemmt sich ihre Schulmappe unter den Arm und lässt die Tür laut ins Schloss fallen.
Dirk stellt seine Tasse ab. “Habe ich da was nicht mitbekommen?”
Seine Frau Amelie reicht ihm seine Butterbrotdose hinüber. “Zwei mit Schinken, eins mit Käse. Oder musst du heute mit Geschäftsleuten frühstücken?”
Sie weicht seinem Blick aus.
Er nestelt an seiner Krawatte. “Es wird Zeit, dass unsere Tochter sich in Bescheidenheit übt. Immer muss sie alles bekommen, was sie sich in ihren Kopf gesetzt hat.”
Amelie schlingt ihre Arme um seinen Hals. “Vergessen, dass du ihr das Mofa bereits vor einem Jahr versprochen hast?”, raunt sie ihm ins Ohr und knabbert leicht an seinem Ohrläppchen. Dirk schiebt sie sachte weg und räuspert sich. “Wir hätten wenigstens darüber reden können.”
“Ach komm. Jetzt bist du aber absolut pingelig. Wo ist das Problem? Sie hat sich wirklich in allen Noten sehr verbessert. Das sollte auch honoriert werden.”
Der Kaffee schmeckt bitter und der Bissen von der Toastscheibe klebt wie ein Knoten in seiner Speiseröhre fest.
Amelie verstaut sein Frühstück in der Aktentasche. “Jogging-Klamotten? Keine Unterlagen?”
Dirk springt auf und reißt ihr seine Tasche aus den Händen. “Seit wann kontrollierst du meine Sachen?”
Erschreckt springt sie zur Seite. “Holla! Da ist aber einer heute mit zwei linken Beinen aufgestanden.” Sie wirft die Lunchdose auf den Tisch. “Dann pack dir in Zukunft deine Tasche selbst.”
An diesem Morgen fällt die Tür ein zweites Mal krachend ins Schloss.
Amelie öffnet sie noch einmal und ruft Dirk hinterher: “Und denk daran, in der Mittagspause die Rechnung für den Partyservices zu überweisen! Wegen dem Geburtstag!” Sie wirft ihm einen Handkuss zu und freut sich auf einen Vormittag mit ihrer Freundin, den sie im Wellness-Tempel verbringen werden.
Darüber hatte es gestern Abend auch eine Diskussion gegeben, weil Dirk meinte, das sei hinausgeworfenes Geld und vertane Zeit; denn jetzt hätte sie noch Gelegenheit in ihren ehemaligen Beruf als Krankenschwester zurückzukehren. Was wesentlich befriedigender sei, als mit oberflächlichen Frauen in der Dampfsauna zu hocken.
“Oh”, hatte sie geantwortet, “und das große Haus und den Garten versorge ich dann nach Feierabend, während der Gnädige Herr seine Geschäftstermine hat.”
Sie stellt das Geschirr in den Geschirrspüler und murmelt. “Sicherlich Umstrukturierungen in der Firma, die ihn nervös machen. Oder Midlife-Crisis?”

* * *

Im Cafè schmeckt der Kaffee ebenso bitter. Dirk süßt ihn mit vier Löffeln Zucker.
“Dirk! Alter Knabe!”
Das hatte gerade noch gefehlt. Berni aus der Buchhaltung.
“Biste neuerdings unsichtbar?” Er setzt sich zu ihm an den kleinen runden Tisch. “Aber klar! Die Herrschaften aus der mittleren Führungsriege haben ja nie was mit den Kleinen aus der Buchhaltung zu tun.” Er wundert sich. “Heute Zeit für einen Kaffee?”
Dirk schiebt hastig seinen Sakkoärmel hoch und blickt auf die Armbanduhr. “Das Meeting wurde auf später verschoben, da kann man sich ja mal in RUHE eine kleine Auszeit gönnen.” Er betont das Wort Ruhe.
“Recht haste”, Berni trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte, “das Gehetze geht auch auf die Pumpe.”
“Hast du Urlaub?” Dirk nippt an dem süßen Gebräu und verzieht das Gesicht.
“Nur ‘n Arzttermin wegen der Pumpe, war gerade zum EKG. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein. Gestern Abend. Plötzlich diese Enge hinterm Brustbein.” Er ballt eine Faust vor seiner Brust. “Ich sollte endlich mal Ausgleichssport machen. Joggst du immer noch?”
Dirk nickt und lächelt bitter. “Jeden Tag. In der letzten Zeit sogar sehr ausgiebig.”
“Respekt! Wie du das alles schaffst! Ich beneide dich.”
Dirk blickt wieder auf die Uhr. “Das Meeting.”
Er steht auf und schüttelt Berni die Hand. “Tja, ich muss los. Bis dann mal wieder.”
Berni lächelt. “Man sieht sich hoffentlich mal wieder.”

Eilig biegt Dirk links ab und überquert den Marktplatz, blickt sich mehrere Male um, ob Berni ihm hinterher schaut, oder ihm folgt.
`Ganz ruhig´, denkt er sich, `das ist die gewohnte Richtung zur Firma am Business-Tower.´ Erst, als der den Markplatz überquert hat, ändert er seine Route, betritt das Gebäude und eilt die Stufen hinauf in die zweite Etage. Dort lässt er sich keuchend auf einem freien Stuhl nieder. Heute scheint hier wenig los zu sein. Er lockert den Krawattenknoten, damit er besser atmen kann, denn das Wachs auf dem Linoleum steigt ihm unangenehm in die Nase.
Den Hall von Absätzen nimmt er nicht wahr. Auch nicht, dass die Schritte näher kommen.
“Dirk? Was machst du denn hier bei der Bundesagentur für Arbeit?”
Er schaut durch Berni hindurch, als er abrupt aufsteht und stottert. “Wegen meiner, äh, Frau. Sie will, will, wieder, wieder, tja, arbeiten. Zu langweilig Daheim.”
Stürzt die Treppen hinunter und ruft: “Das Meeting!”
“Alles klar”, haucht Berni und spürt wieder die Enge in der Brust.

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