von Sabine Esser

„Ich bereue doch! Ich bereue zutiefst“, wimmert die elende Gestalt.
Der nicht deutlich sichtbare Richter schweigt unerbittlich.
„Was habe ich getan, dass ich so gestraft werden soll“, begehrt die Kreatur unhörbar auf.
Schweigen.
Stunden und Stunden vergehen ohne Antwort.
Das Wesen hat sich zusammengekrümmt und greint leise vor sich hin.

Nach und nach treffen die Ehefrau und die drei Söhne ein, nehmen Platz in dem kleinen stickigen Raum. Das Fenster soll wegen der Kälte draußen nicht geöffnet werden, immerhin hat der „Patient“ eine Lungenentzündung.

„Die Füße sind noch warm“, stellt die Hospizmitarbeiterin fest. „Das dauert noch. Ich bringe Ihnen gleich eine Thermoskanne Kaffee. Milch und Zucker auch?“
Die Angehörigen versuchen teilnahmsvoll auszusehen, sie müssen am nächsten Tag zur Arbeit. Sie sind beunruhigt: Es ist schon nach 22 Uhr.

„Warum verurteilst du mich?“
„Warum lässt du mich nicht zu dir?“
„Ich habe doch immer versucht, alles richtig zu machen.“
„Versucht“ – schwingt das Wort nach. Versucht, versucht, versucht.
Was versucht, wen versucht?
Wie lang‘ das Wort hallt!
Keine Antwort.
Die Zeit ist ohne Wert. Sie dehnt sich unendlich.

Hoffnungsvoll fragen die Angehörigen: „Schwester, er keucht so. Geht es zu Ende?“
Wieder der Routinegriff an die Füße: „Das dauert noch. Haben Sie genug Kaffee?“

„Die Katze. Da habe ich nicht versucht, zu helfen. Keine Traute. Die anderen waren größer und älter. Die sind schuld.“
„Schuld“, groß und schwer und neblig, nicht fassbar.
„Meinst du wirklich die Katze?“
„Aber ich war doch ein kleiner Junge! Das kann doch nicht zählen!“
„Du willst mich doch nicht verbrennen!“
Schreien will er, schreien. Aber er hat keine Stimme mehr.

„Er ist ein bisschen unruhig, das gibt sich wieder“, streicht die Pflegerin mit einen feuchtkühlen Tuch über die heiße Stirn des Sterbenden. Die Familie schaut zu.
„Wie lange, denken Sie, dauert das noch? Ich muss morgen früh fit sein.“
„Ich sagte ja, die Füße sind noch warm.“
Die Thermoskanne ist leer. Mit schnellen Blicken verständigen sich Frau und Kinder, verlassen den Raum.
„Das bringt doch sowieso nichts. Er erkennt uns ja nicht mal mehr“, argumentieren sie und fahren nach Hause. Es ist nach 1 Uhr früh.

Eine junge Katze ist da. Schwarz-weiß gefleckt. Die Jungs aus dem Dorf haben Langeweile. „Mietz, Mietz, Mietz“, rufen sie die Kleine. Vertrauensvoll nähert sich ihnen das Tierchen. Ein schneller Griff in den Nacken, dann zünden sie ihr den Schwanz an. Je schneller sie läuft, desto mehr brennt sie und schreit. Das macht Spaß.

„Das war doch ein Kinderstreich! Du kannst mich doch nicht deswegen lebendig verbrennen!“

„Das Fieber steigt“, misst die Pflegerin und trägt den Wert in die bereitliegende Tabelle ein.
Der Richter schweigt.

„Bitte, bitte nicht“ versucht die Kreatur zu schreien und ringt nach Luft. Nur heftig rasselndes Röcheln ist zu hören.

Das Fieber steigt weiter.

„Ich bereue doch. Ich bereue doch wirklich“, keucht der Greis tonlos.
„Selbstmitleid“, dröhnt es in ihm wie mit Donnerglocken.
Er ist zu schwach, sich die Ohren zuzuhalten.

„Das ist zu wenig.“
Endlich eine Antwort.
Das Fieber ist brennend heiß.

„Oh Gott, ich schäme mich. Ich habe immer nur mitgemacht. Ich war feige. Immer.“

Das Fieber sinkt rasant. Niemand hört das Ausatmen und befühlt die Kälte.

„20.11.2016, 04:13 ex“, trägt die Nachtschwester ein.