von Ingo Pietsch

„Darf ich mich denn wenigstens heute noch verabreden?“, fragte Johannes, obwohl er die Antwort schon kannte.

Karina sah ihren Sohn seelenruhig an. Eigentlich war ihr eher nach einem Wutausbruch.

Johannes konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Ihre Pupillen zuckten hin und her.

Er hatte den Bogen überspannt, und das wusste er.

Traurig ließ er die Schultern hängen und ging die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Auf halbem Wege schaute er noch einmal nach unten, wo seine Mutter immer noch regungslos im Flur stand und ihm nach starrte.

„Playstation?“, fragte er leise.

Karinas Augen sprühten vor Zorn. Die Augenbrauen zogen sich zusammen, ihr Arm schoss hoch, und der Zeigefinger wies nach oben.

Johannes nahm zwei Stufen gleichzeitig und knallte seine Tür hinter sich zu.

Karina atmete aus. So schlimm war es schon lange nicht mehr gewesen. Genauer gesagt, war es genau ein Jahr her. Zur gleichen Zeit, zu Weihnachten. Da wurde es besonders heftig.

Denn Johannes glaubte mit seinen sechzehn Jahren immer noch an den Weihnachtsmann.

Er hatte bis zu den Weihnachtsferien Hausarrest. Und das nicht ohne Grund.

Karinas zweite Amtshandlung führte sie in den Flur, wo sie den WLAN-Router ausschaltete.

„Oh Mama, Hausarrest ist schon schlimm genug!“, kam Johannes gedämpfte Stimme aus dem ersten Stock.

Karina schlurfte in ihren Puschen zum Kühlschrank, nahm eine Schoko-Milch heraus und setzte sich an den Küchentisch.

Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Draußen vor dem Fenster hatte sich eine Lichterkette von einem Rhodondendronbusch gelöst und flatterte im Wind.

Die einzige Weihnachtsstimmung kam auf, wenn sie morgens die Autoscheiben freikratzen musste.

Kein Schnee weit und breit.

In der Nachbarschaft mähte irgendjemand Rasen.

Wenn in einer halben Stunde ihr Mann von der Arbeit käme, würden sie sich zu dritt an den Esstisch setzen und Johannes Verhalten in der Schule besprechen.

Wie jedes Jahr.

Karina seufzte. Er war ein ausgezeichneter Schüler und machte sich mit dieser Aktion so immer wieder zum Gespött der Schule. Jedes Mal wurde sie dann zum Direktor zitiert und durfte eine Predigt über sich ergehen lassen. Als wenn das nicht schon peinlich genug gewesen wäre, wurde sie sogar auf Schulfesten darauf angesprochen.

Karina verschluckte sich bei diesen Gedanken und musste husten.

Ein Schauer jagte ihr über den Rücken, als sie an diese Spießroutenläufe dachte.

Sie beschloss, erst ganz in Ruhe mit ihrem Sohn zu sprechen und brachte die Milch wieder weg.

Sie ging gerade hoch, als sie die Dusche hörte.

Die Tür zu Johannes Zimmer stand einen Spalt breit offen und Karina riskierte einen Blick.

Er schloss sonst immer ab, wenn er es verließ. Und da seine schmutzigen Klamotten in der Wäsche lagen und auch der Staubsauger regelmäßig zu hören war, machte sie sich keine Sorgen darüber, dass es hier unordentlich sein könnte.

Auf den ersten Blick war es das Zimmer eines normalen Teenagers: Mit Filmpostern an den Wänden und Raumschiffmodellen unter der Zimmerdecke.

Allerdings stach etwas Außergewöhnliches ins Auge: Über dem Schreibtisch hing eine Pinnwand, die über und über mit Fotos, Karten und Berichten bedeckt war.

Und sie handelten alle vom gleichen Thema: Dem Weihnachtsmann.

Angebliche Sichtungen des Rentierschlittens in verwackelten Bildern. Augenzeugenberichte, angebliche Kontakte mit dem Weihnachtsmann, technische Details, wie der Schlitten funktionierte und sogar, dass der Weihnachtsmann sich teleportieren konnte.

Karina wunderte sich, dass ihr Sohn sich so in diese Sache hineingesteigert hatte.

Er war überall beliebt, hatte viele Freunde und auch im Schwimmverein aktiv.

Aber diese Marotte war nicht normal.

Mitten in dem geordneten Chaos befand sich sogar ein Foto vom Weihnachtsfest von vor fünf Jahren: Karina mit ihrem Mann Klaus, Johannes und einem befreundeten Arbeitskollegen, verkleidet als Weihnachtsmann. Johannes hatte die Augenpaare von Klaus und dem Weihnachtsmann per Computer vergrößert – und sie waren identisch!

Langsam begann auch Karina Gespenster zu sehen.

Sie beschloss, unten auf ihren Mann zu warten, bis er von der Arbeit kam.

Sie zermarterte sich den Kopf darüber, was sie wohl falsch gemacht hatte und bekam Kopfschmerzen.

Sie ging zurück in die Küche zog sich einen Stuhl vor den Herd und öffnete den Schrank über der Abzugshaube, wo sie die Medikamente und Feuerzeuge kindersicher aufbewahrte. Ab und zu kam schon mal Besuch und dessen Kinder waren ziemlich neugierig.

Karina kramte im Schrank herum und warf dabei eine Flasche Desinfektionsspray auf den Boden. Als sie die Kopfschmerztabletten gefunden hatte, wollte sie das Spray wieder zurückstellen und stutzte dabei: Das Etikett löste sich und darunter befand sich noch ein weiteres.

Karina zog es vollständig ab und musste sich erst einmal setzen, als sie den Text gelesen hatte:

Memo-Spray – Löscht das Kurzzeitgedächtnis nachhaltig. Nur im äußersten Notfall benutzen! Bei zu häufiger Anwendung verringert sich die Wirkung. Nur in geschlossen Räumen benutzen!

Wenn das echt war, wozu, zum Geier, brauchte man so was? Halluzinierte sie etwa?

Karina nahm gleich zwei Schmerztabletten und versteckte die Flasche hinter ein paar Brettchen.

Gerade als das Schwindelgefühl verschwand, hörte sie in der Auffahrt den Wagen ihres Mannes.

Er kam ins Haus legte seine Schlüssel in den Flur und kam zu ihr in die Küche.

„Hallo Schatz! Wie war dein Tag?“ Er gab ihr ein Kuss auf die Wange, stellte seinen Aktenkoffer auf den Boden und öffnete den Kühlschrank.

„Oh, ich habe einen Riesenhunger. So kurz vor Weihnachten ist bei uns immer der Bär los.“ Er drehte sich um, als er keine Antwort bekam.

Karina starrte auf den Koffer und roch immer noch sein Aftershave, das an Zimtplätzchen

erinnerte.

Auf dem Leder stand XMAS, eXited Man Accessories and Suits, die Firma, für die Klaus tätig war.

Karina schüttelte den Kopf. Sie begann zu phantasieren.

„Was ist?“, fragte Klaus.

„Ich will Antworten oder ich drehe durch!“

„OK“, sagte er gedehnt. „Worauf willst du Antworten?“

Karina stand auf und holte das Spray. „Was ist das?“

Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Ein Scherzartikel?“

„Und was macht dieser Scherzartikel in unserem Medikamentenschrank?“

Klaus stotterte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Wofür brauchst du das und hast du es schon mal bei mir angewendet?“, Karinas Stimme wurden mit jedem Wort lauter.

Klaus wich zurück und flüchtete ins Wohnzimmer.

„Ist Johannes auch da?“, fragte er gehetzt.

„Ja, ist er. Und ich musste heute wieder in die Schule, weil er sich wegen dieser Weihnachtsmannsache geprügelt hat. So schlimm ist es noch nie gewesen. Du hattest mir doch versprochen, mit ihm zu reden“, Karinas klang immer noch schrill.

„Habe ich auch. Darf ich das Spray mal kurz haben?“

Karina fauchte ihn an: „Vergiss es! Ich will die Wahrheit.“

„Und die bekommst du“, antwortete er beschwichtigend. „Setz dich aufs Sofa. Johannes? Kommst du bitte mal runter? Ich muss euch beiden was Wichtiges mitteilen.“

Johannes brauchte einen Moment, bis er auf dem Sofa Platz genommen hatte.

Gespannt blickten sie Klaus an.

„Ich muss euch etwas erklären.“

„Du bist der Weihnachtsmann!“, behauptete sein Sohn.

Klaus hob abwehrend die Hände: „Nein. Ich arbeite für ein sozial engagiertes Unternehmen, das Menschen in Not unterstützt und ihnen ein wenig unter die Arme greift.“

„Du bist also doch der Weihnachtsmann!“

„Ich bin nicht der Weihnachtsmann!“, verteidigte sich Klaus vehement.

„Und was ist mit dem Foto, auf dem dein angeblicher Arbeitskollege mit drauf ist und der die gleichen Augen hat wie du?“, Johannes verschränkte die Arme und seine Mutter gleich mit.

Klaus atmete tief ein: „OK, ich bin der Weihnachtsmann.“

Karin bekam den Mund nicht mehr zu und Johannes grinste vor sich hin: „Ich habe es immer gewusst!“

„Ich will jetzt die Wahrheit hören und keine Märchen!“, Karina Gesicht war gerötet.

„Das ist die Wahrheit! Was willst du denn hören? Das ich ein Geheimagent bin, der ständig die Welt rettet?“

Plötzlich wurde sie Tür aufgestoßen und eine Spezialeinheit in grünen Anzügen stürmte herein.

Karina und Johannes rissen die Arme hoch.

„Keine Bewegung!“, sprach eine verzerrte Stimme.

„Meinen Sohn diesmal nicht!“, hörte Karina ihren Mann noch rufen, bevor das Sonderkommando mit den spitzen Ohren und Zipfelmützen Rauchgranaten abfeuerte.

 

Karina schüttelte den Kopf. Ihr war irgendwie schummrig. Sie saß mit ihrem Sohn zusammen auf dem Sofa und lauschte ihrem Mann bei einem Vortrag, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gab.

Er erklärte gerade, dass das rot-weiße Kostüm die Erfindung eines Limonadenherstellers war und sich zu einem besonders guten Werbegag entwickelt hatte.

Karina hatte nicht ganz folgen können, sie war immer noch zu durcheinander.

„Ich glaube, ich habe jetzt verstanden“, grinste Johannes seinen Vater an.

„Und ich mache uns jetzt erst einmal eine heiße Schokolade“, meinte Karina erleichtert, dass dieses für sie beschämende Kapitel endlich ein Ende gefunden hatte.

Während sie in der Küche verschwand, glaubte sie noch zu hören wie Johannes zu seinem Vater sagte: „Aber du zeigst mir wirklich, wie du an mehreren Orten gleichzeitig sein kannst?“

Und Klaus erwiderte: „Natürlich, so ist doch unser Deal! Ho, Ho, Ho!“