von Eva Fischer 

„Schäm dich!“, sagte die Mutter.

Doch Adi schämte sich nicht.

Er schämte sich nicht, wenn er den Schmetterlingen die Flügel ausriss.

Er schämte sich nicht, wenn er die Mädchen an ihren Zöpfen zog oder ihre Röcke lüpfte.

Er schämte sich auch nicht, wenn er die Dorfjungen verprügelte, weil sie nicht taten, was er wollte.

Die Mutter war ratlos und wandte sich an ihren Mann.

„Ich werde dem Jungen Mores lernen“, versprach dieser, nahm seinen Gürtel und versohlte Adi, bis sich rote Striemen auf seinem Hinterteil zeigten.

Adi ließ die Prügel stoisch über sich ergehen. Das Leben ist ein Kampf, dachte er. Nur der Stärkere kann gewinnen. Und der Stärkere würde er eines Tages sein. Ganz klar.

 

Nach der Schule lauerten ihm die Dorfjungen auf. Sie hielten ihn an den Armen fest und zogen ihm die Hose herunter. Doch Adi schämte sich auch da nicht. Als sie sein Glied mit einer Stange traktierten, gab er keinen Laut von sich. Sein Glied hing wie ein trauriges Würstchen herunter, das man an einer Ecke angebissen hatte.

Die Übeltäter erhielten von Adi die gerechte Strafe. Einem kugelte er den Arm aus, einem weiteren zerschmetterte er die Kniekehle. Der dritte erblindete auf einem Auge, nachdem Adi dieses mit einem Stock durchbohrt hatte.

Der Stärkere hatte gesiegt. Ab da wagte keiner mehr, Adi ein Haar zu krümmen.

 

Adi wuchs heran. Das Dorf langweilte ihn. Die Schule langweilte ihn. Er war zu Höherem geboren. Ganz klar. So zog er in die Stadt. Er fand, die Leute mit den schwarzen Locken stanken nach Knoblauch und die ohne Locken nach Alkohol. Beides wollte er in Zukunft meiden, auch die Flöhe, die von seinen obdachlosen Nachbarn auf ihn übersprangen. Schämen sollte sich diese Spezies von Mensch, fand er. Das musste man unbedingt ändern.

Er war doch der Stärkere, aber noch hatte es keiner bemerkt. Auch seine Zeichnungen blieben unbeachtet, erzielten beim Verkauf einen Hungerlohn, so dass er die Unterkünfte für Obdachlose nicht verlassen konnte – vorerst.

 

Der Krieg bietet dem Mutigen einen Schauplatz, um seine Stärke zu beweisen. So meldete sich Adi freiwillig zum Krieg, kämpfte auf der Seite der vermeintlich Stärkeren, die aber leider den Krieg verloren. Dieses Desaster ließ ihn fast vor Schmerz erblinden, doch er gab nicht auf. Er würde sich an die Spitze der „Verlierer“ setzen, um sie dennoch zum Sieg zu führen. Wie war das? Eine verlorene Schlacht ist noch lange kein verlorener Krieg!

Und diese Verlierer schienen ganz begeistert von Adi. Ok, manchem Uneinsichtigen musste mit ein paar Stockhieben nachgeholfen werden. Mittlerweile hatte Adi genügend Gleichgesinnte, die ihm die Arbeit mit dem Stock abnahmen. Der Phantasie waren auch da keine Grenzen gesetzt. Die Menschheitsgeschichte ist ein reichhaltiges Lehrbuch, wenn es darum geht, das Recht des Stärkeren durchzusetzen.

Adi kämpfte sich an die Spitze eines Staates. Seine Mutter brauchte sich nun fürwahr nicht mehr für ihn schämen. Leider war sie mittlerweile gestorben.

Die mit den schwarzen Locken sperrte Adi ein, nahm ihnen ihr Hab und Gut weg oder vergaste sie, denn er hatte nie den Knoblauchgeruch vergessen, geschweige ihnen verziehen. Auch mit anderen „Schwachen“ ging er nicht zimperlich um. Viele ließ er töten. Dieser Kadavergeruch machte ihm schwer zu schaffen, aber man durfte nicht wehleidig sein, musste Stärke zeigen.

Ein neuer Krieg würde aus ihm einen gottähnlichen Helden machen. So ließ er eine Armee aus blondgelockten Jünglingen rekrutieren, hart wie Kruppstahl. Sie marschierten in die unvorbereiteten Länder und feierten rauschende Siege. Viel Feind, viel Ehr! Feinde waren Adi von jeher am liebsten gewesen. Leider verlor er jedes Maß aus den Augen und so wurden nach und nach seine blondgelockten Jünglinge dahingeschlachtet. Er schämte sich für diese Feiglinge und beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen. Eigentlich hätte er sich heldenhaft erschießen müssen, zog aber dann doch Gift vor.

 

Während die Welt die Befreiung von dem Gift namens Adi feierte, gelangte dieser an die Pforte des Allmächtigen. An das Christentum glaubte Adi weniger, denn was war das für ein Gott, dessen Sohn machtlos am Kreuz hing, statt seine Peiniger mittels himmlischer Kräfte zu besiegen? Doch genau zu diesem wurde er geführt. Er schaute ihn an, nicht lieblos und hasserfüllt, wie Adi schon mal auf Erden die Menschen angesehen hatte, sondern eher traurig.

In seinem Blick erkannte Adi auf einmal, was er all den Kreaturen angetan hatte, Millionen und Abermillionen. Tiefe Scham breitete sich in ihm aus. Sie brannte in ihm wie ein höllisches Feuer. Er wand sich vor unsagbaren Qualen und  wusste, sie würden nie aufhören.

 

Da erkannte er unter all den Seelen seine Mutter wieder.

„Siehste Adi, es ist nie zu spät.“