von Jochen Ruscheweyh

Autos, nichts als Autos, so weit man gucken konnte. Sham al Shabats Schrottplatz war der aufregendste und zugleich verbotenste Ort, an dem sich Kinder aufhalten konnten. Und immer wenn wir uns in unserer Siedlung zusammenrotteten, ging irgendwo ein Fenster auf und eine unserer Mütter rief: „Spielt nicht bei Sham al Shabat!“
Natürlich stachelte uns diese Warnung gerade zu an, uns nicht daran zu halten, und so zogen wir Nachmittag für Nachmittag los, um uns zwischen den Autowracks zu verstecken. Wovor, dass war uns auch nicht so ganz klar, höchstwahrscheinlich aber vor Sham al Shabat selbst, den noch niemand von uns zu Gesicht bekommen hatte.
Deswegen bestand die kühnste aller Mutproben auch darin, sich so nah wie möglich an das Büro zu schleichen, über dem ein geschwungener Schriftzug in einer fremden Sprache prankte, von dem wir annahmen, er lautete Sham al Shabat – Schrottplatz oder Sham al Shabat – Automobilverwertung.
Direkt neben dem Eingang gab es einen Müllverschlag aus Waschbetonplatten, halb zugewuchert mit wildem Gestrüpp, das einem gute Deckung bot.
Aber so sehr wir uns auch bemühten, man konnte Sham al Shabat einfach nicht im Inneren entdecken.
Auch nicht mit dem Opernglas, das Achim aus der Wohnung seiner Großeltern geschmuggelt hatte.
Daher rankten sich bald immer wildere Geschichten um den unsichtbaren Schrotthändler. Mal sollte er so aussehen wie der orientalische Junge auf der Sarotti-Schokoladenverpackung, nur mit Reißzähnen wie ein Tiger, andere sprachen von den eiskalten Augen eines russischen Adeligen wie im Kurier des Zaren.
Letztendlich wusste aber jeder von uns im Geheimen, dass all diese Beschreibungen nur Ausgeburten von Jungenphantasien waren und keine davon zutraf.
An einem dieser Tage um Ostern, an denen es noch zu kalt war, um ohne lange Unterhose rauszugehen und der Wind sich nicht entscheiden konnte, ob er rötlich braunen Filterstaub von Hoesch oder feinen Nieselregen vor sich her blasen sollte, fielen wir wieder auf Sham al Shabats Schrottplatz ein.
Dirk, ein sehr klein geratener und ständig kranker Junge aus der Nachbarschaft, hustete sich schon seit Wochen um Kopf und Kragen und je näher wir an Shams Büro kamen, desto öfter fing er sich einen Schlag gegen den Hinterkopf von einem der Älteren ein, denn sein Husten konnte uns schließlich alle verraten.
„Da qualmt was!“, flüsterte Carsten, der nicht direkt in unserer Siedlung wohnte, dessen Zugehörigkeit zu uns aber dennoch niemand in Frage stellte.
„Wo? Gib her!“, nahm ihm einer der Älteren Achims Opernglas ab. Und dann: „Ja, echt!“
Das Opernglas wurde von einem zum anderen weitergereicht und irgendwann kam auch ich in den Genuss, das lederbesetzte Etwas mit den goldfarbenen Umrandungen in den Händen halten zu dürfen.
Und tatsächlich, in einem grünlichen Kristallaschenbecher lag eine fingerdicke Zigarre, von der Rauchschwaden gen Bürodecke aufstiegen.
Wo eine Zigarre war, musste auch ein Mann sein, der sie rauchte, folgerte ich. Es konnte sich also nur noch um einen Moment handelt, ehe Sham al Shabat – und ich war mir sicher, dass niemand anders als er selbst es gewesen sein konnte, der sich diese Zigarre angesteckt hatte – bis er zurückkehrte, sich in den Polstersessel setzte und einige Züge paffte, um die Glut am Verglimmen zu hindern.
Und dann wäre ich derjenige, der ihn als erster sah.
Noch Wochen würde ich damit in der Siedlung angeben können. Wenn ich mir Trüller Chips und Niederrhein Gold Apfelsaft im COOP kaufte, würden sich alle – Jungs wie Mädchen – zuraunen: „Das ist doch der, der Sham al Shabat als erster und einziger gesehen hat“. Und wahrscheinlich würde man mich an der Kasse vorlassen. Und einige von den Mädchen, die mit den Älteren rumzogen, würden mich süß finden und mich vielleicht bei Tat oder Wahrheit zum Knutschen herausfordern.

Am liebsten hätte ich einen Seufzer von mir gegeben in Anbetracht all der wunderbaren Dinge, die auf mich warteten, aber ich kam nicht dazu, da jemand am Opernglas zerrte. Sofort verstärkte ich meinen Griff, denn wenn man das Paradies greifbar vor sich hat, dann gibt man das nicht so einfach auf. Dem Tauziehen im Turnunterricht ähnlich ging es hin und her, bis der Zug der Gegenseite plötzlich nachließ, das Operglas zurückschnellte und gegen meine Nase schlug. Was nicht nur dazu führte, dass ich aus unserem Versteck taumelte, sondern auch, dass ein Sturzbach Nasenbluten aus meiner Nase strömte.
Meine Hände, meine Jacke, die Lederummantelung des Opernglases, alles um mich herum schien sich rot zu färben. Gleichzeitig fiel mir auf, dass einer nach dem anderen seine Deckung hinter dem Gestrüpp verließ und Richtung Siedlung rannte.
Alle, bis auf einer, den man wie einen hüstelnden Igel in seinem Versteck hörte: Dirk.

Ich taumelte um das Gestrüpp herum und sah ihn zusammengekauert dort hocken mit bläulich wirkenden Lippen. Auch wenn ich über und über mit Blut beschmiert war, wurde mir in diesem Moment klar, dass ich nicht daran sterben würde, vielleicht aber Dirk an seiner Luftnot, wenn ich nicht schnell etwas unternahm.

Ohne weiter darüber nachzudenken, riss ich ihn hoch und versuchte ihn so unter den Armen zu greifen, wie es die Cowboys mit angeschossenen anderen Cowboys in Western von Gestern machten, aber Dirk ließ sich nicht halten, fiel in sich zusammen, wie ein Sack oder ein übergroßes schlabbriges Kopfkissen. Ich probierte, ihn gegen den Waschbetonverschlag zu lehnen, und nach einigen Versuchen blieb Dirk tatsächlich aufrecht dort sitzen, während er pfeifend Luft in sich hineinsog.

Da ich keine Schelle fand, schlug ich mit der flachen Hand gegen die Scheibe und brüllte so laut ich konnte „Hallo, Hilfe!“.
Mein Blut hinterließ dabei Spuren wie von roter Wasserfarbe, während innen die Zigarre vor sich hinqualmte. Als niemand kam, drückte ich die Klinke herunter.

Innen roch es sauber, nach neuen Polstermöbeln und … Zigarre.
Aber auch irgendwie fremdartig, wie auf dem Dritte Welt Basar in der Kirche. Ich sprang einen Schritt zur Seite, als ich feststellte, dass ich auf einem Orientteppich stand, den ich mit Blut volltropfte. Im selben Moment kam ein schlanker Mann mit Brille und Anzug aus einem Nebenraum geeilt, sah mich an, deutete mir den Kopf in den Nacken zu legen, rief einen eigentümlichen Namen und etwas, das ich nicht verstand.
Alles, was ich sagen konnte, war „Dirk!“, dabei zeigte ich nach draußen. Eine Frau mit langen dunklen Haaren und vielen Goldreifen an den Armen brachte ein feuchtes Handtuch, das mir der Mann, von dem ich annahm, er wäre Sham al Shabat, auf die Stirn legte. Dann eilte er hinaus, während die Frau mir das Blut mit einem Stück Küchenpapier abtupfte, aus einem weiteren Stück eine kleine Rolle drehte und mir vormachte, dass ich mir diese in mein noch blutendes Nasenloch schieben solle.

Einen Moment später trug Sham al Shabat den zitternden und nach Luft schnappenden Dirk herein, legte ihn auf ein Sofa, neben dem ein Glastisch mit Zeitschriften lag und schob ihm dann zwei Kissen unter den Rücken, dass sein Körper höher zu liegen kam.
Die Frau lächelte, drückte meine Hand und ging zu Dirk und Scham al Shabat hinüber. Scham und sie sagten etwas zueinander in einer Sprache, die ich nicht verstand. Danach baute die Frau sich vor Dirk auf und machte ihm vor, wie er ein- und ausatmen sollte.
Immer wieder musste sie ihn ermahnen, es genauso zu tun, wie sie es vormachte.
Nach einer Weile faltete sie die Hände vor ihrem Bauch, lächelte noch einmal und verschwand dann im Nebenzimmer.

Ich konnte fast zusehen, wie Dirks Gesichtsfarbe wieder normal wurde. Eine halbe Stunde später saßen wir bei dem schokoladigsten Kakao, den ich jemals getrunken habe, im Nebenzimmer.
Sham al Shabat paffte seine Zigarre zu Ende, sah uns dabei schweigend an, während seine Frau einen großen Teller Gebäck brachte, das köstlich schmeckte.
Ich hätte gerne etwas gesagt, aber ich wusste nicht was, und ob Sham al Shabat und seine Frau uns überhaupt verstanden.
Daher träumte ich einfach vor mich hin, bis Dirk mich am Ärmel zog. „Komm, wir verschwinden.“
Ich wollte nicht gehen, aber auch nicht alleine zurückbleiben, obwohl ich mir sicher war, dass mir hier nichts passieren würde.
Dirk stand als Erster auf, und ging, ohne seinen Stuhl an den Tisch zu stellen. Ich glaube, ich machte eine kleine Verbeugung, bevor ich meinen Stuhl heranschob und leise „Danke“ sagte.

Ich gebe zu ich kann nicht besonders gut erzählen und schreiben noch viel weniger. Warum ich es jetzt trotzdem tue?
Weil mir Bekannte berichtet haben, dass Dirk in den letzten Wochen wieder verstärkt in unserem alten Viertel Stimmung macht.
Er ist heute nicht mehr als ein kleines, verbittertes, zusammengefallenes Männchen, das im Viertelstundentakt nach seinem Asthma-Spray greift, rechte Parolen raushaut und Menschen aus anderen Kulturkreisen die Schuld daran gibt, dass ihn das Leben benachteiligt hat.
Gut, meine Lunge ist in Ordnung, aber mir sind auch viele Sachen passiert, auf die ich gerne verzichtet hätte.
Aber immer wenn es mir richtig beschissen geht, denke ich an den Tag bei Sham al Shabat zurück und dass er uns geholfen hat.
Ganz selbstlos, obwohl wir ihn wochenlang belagert und genervt haben.

Vielleicht kann man auch nur Hilfe bekommen, wenn man es zulässt. Und möglicherweise ist das der Unterschied zwischen Dirk und mir. Ich weiß, das mag psychologisch nicht sehr ausgearbeitet klingen, aber ich bin überzeugt, dass da etwas daran ist.

Seit dem Tag damals sind wir übrigens nie wieder auf Sham al Shabats Gelände gewesen.
Und irgendwann ist er wohl weggezogen.
Ich hoffe, es geht ihm gut.