Von Sabine Esser

Lydia Ottilie Augusta Luise von Mildenstätt ist müde, sterbensmüde, trotz ihrer nur einundzwanzig Jahre. Sie saugt an ihrer Papirossa, nippt an ihrem Absinth und starrt in den grell beleuchteten Spiegel. Jeden Abend, jede Nacht dasselbe. Sie will nicht sterben. Jetzt noch nicht. Oder vielleicht doch? Dass sie sterben wird, weiß sie jedoch ganz sicher.

 

Die Kur in Davos, die ihre Lungenschwäche hätte heilen sollen, musste abgebrochen werden. Sie hustet immer noch, aber wenigstens kein Blut. Das Fieber lässt sie die Kälte in dem Mansardenstübchen, in dem sie schlafen darf, nicht so fühlen. Oder drückt die Kälte das Fieber? Lydia weiß das nicht genau und will es auch gar nicht wissen.

 

Sie schnupft schnell eine Linie, bevor ihre Kollegin kommt, die „dicke Bertha“. Die Geschäftsleitung legt Wert darauf, dass das Personal keine Drogen nimmt, aber anders ist „das“ hier nicht zu ertragen. Obwohl der „Grüne Kakadu“ zur gehobenen Klasse gehört, keine Kaschemme, nein, wirklich nicht. So weit ist sie noch nicht! Obwohl?

 

Papachen versucht sich als Sektvertreter, wohnt zur Untermiete und trinkt das, was er verkaufen soll. Seine guten Manieren und sein Charme trösten manche Witwe. Warum auch nicht? Die schönen Halbblüter wurden eingezogen, der große Mercedes auch, das riesige Gut in Brandenburg einige Jahre später für mehrere Milliarden Reichsmark verkauft, die sich in Schweizer Franken als „keine ausreichende Deckung, quasi wertlos“ entpuppten.

Mamachen ist im letzten Winter gestorben, was heißt „gestorben“? Verhungert ist sie, trotz Röckenähen in Heimarbeit. Im Armengrab wurde sie beerdigt.

Vielleicht war das Giftgas bei Douaumont für die Zwillinge, Friedrich und Wilhelm, gnädiger als „das“ hier?

Noch ein hastiger Schluck.

Was mag aus den Pferden geworden sein? Zerfetzt von Kanonen, verhungert, aufgefressen? NEIN! Nicht nachdenken! Schon gar nicht über die kleine Cora, die auch eingezogen wurde. Was wollte die kaiserliche Armee mit einem Drahthaarfoxterrier als Meldehund? Die süße, verspielte Cora in Verdun oder Russland? NEIN!

 

Lydia nimmt noch einen zweiten, sehr tiefen Zug Kokain. „Das“ muss ein Ende haben! Endlich wirkt das Zeug und sie rafft sich auf, um den Abend und die Nacht zu überstehen. Oder auch nicht. Egal.

 

Mühsam zwängt sie sich in das Kleid aus Goldlamé, das ihren mageren Körper so umschmeichelt. Bodenlang, aber geschlitzt bis dahin, wo es kaum noch vertretbar ist. Die Änderung hat noch Mamachen gemacht. Ohne das Kleid hätte sie hier keine Chance gehabt. Die Federboa ist geliehen. Niemand ahnt den Hunger. Dünn ist Mode! Die Welt dreht durch. Der verdammte, verlorene Krieg!

 

Noch ein Schluck Absinth. Dann kann sie vielleicht über die Unkultur und Plumpheit der neuen Reichen hinwegsehen. Die, die nicht wie Papachen an Preussische Konsols, an das Kaiserreich, an immerwährenden Fortschritt und Gewinn geglaubt hatten. Fette Aasfliegen des Untergangs. Die, die sie nicht nur antatschen wollen. Die sie anlächeln muss. Die ihren Champagner bezahlen. Die, die den Umsatz bringen. Die, die eine Dame der guten Gesellschaft „fallen“ erleben wollen.

 

Etwas zitterig schminkt sie sich und summt beiläufig: „Ach, Du lieber Augustin, Augustin, alles ist hin. Geld ist weg, Stock ist weg. Augustin liegt im Dreck.“

 

„Musste nur was draus machen“, anwortet ihr die gut bestückte Bertha aus Neukölln vom benachbarten Garderobentisch, parfümiert sich großzügig und rückt ihren Busen zurecht.

„Kuck‘ mir an! Aber ick mach‘ auch mehr als Du! Nächtens, Du weest. Und ick schnief‘ nich‘ dat Zeugs da, wat du dir reintust. Viel zu teuer. Und ungesund och. Also jestern, jestern, da hatte ick eenen, dat gloobste nich, der wollte, dat ick nackich mit meene guten Schuhe zu Marschmusik trampele! Als hätten wir da nich jenuch von jehabt! Nich‘ mit mir! Soll er erst mal Schuhe dafür koofen, hab ick jesacht. Er los und kommt mit 1 A Friedensware wieda! Dem trampel ick gern noch öfter eenen.“

Ungefragt schnappt sie sich das Wellenbrenneisen und frisiert Lydias kurze Haare.

„So kann ick dir rauslassen, musste mehr auf dir achten! Ach, Meechen! Küssen und anspucken kann ick dir nich wegen dem Puder, weeste ja. Toi toi toi.“

 

Lydia hört nicht hin und streift sich die langen, schwarzen Halbhandschuhe über. Gleich muss sie raus auf die Tanzfläche, zusammen mit Wladi. Auch so ein Gestrandeter. Angeblich ein Graf Orlow. Schönreden kann sie sich das Gewerbe immer noch nicht. Es ist und bleibt Prostitution. Für ein paar Drinks und Geld, das nichts wert ist. Vor allem aber für das Kämmerchen unterm Dach, in dem sie ganz allein schlafen darf. Gott sei Dank hat sie diesen Vertrag! Manchmal lässt sie Wladi auf dem Fußboden nächtigen, wenn er keine andere Unterkunft gefunden hat. Er verabscheut Offizierswitwen und liebt junge Leutnants. Nun ja, auch die sind weg.

 

Ein prüfender Blick in den Spiegel. Ja, das geht. Sie sieht aus, als hätte sie sich absichtlich so bleich geschminkt. Die Lippen dunkelrot. Die Augen riesengroß.

 

Wladimir kommt aus der Herrengarderobe, ebenso blass geschminkt, die Haare mit Brillantine gegelt.

 

„Wie viel denn heute, Allerschönste? Du machst dich kaputt! Auf in den Kampf, Torera“, intoniert er – übertrieben wie immer – und zieht sie durch die Kellergänge zur Tanzfläche. Auch er muss leben. Überleben. Das Orchester spielt bereits den üblichen Tango. Ein Shimmy wäre nicht zu ertragen. Das könnte sie jetzt nie! Lydia blinzelt irritiert in das helle Licht des kleinen Strahlers, der dieTanzfläche erhellt. Viel zu viel Licht und auch viel zu wenig. Wie blind folgt sie Wladis Führung. Willenlos hängt sie in seinen Armen. Ihre Füße schleifen über das Parkett. Hielte er sie nicht, dann …

 

Müßig, darüber nachzudenken. Denken hilft überhaupt nie. Papachen hatte so viel gedacht und gesorgt, und trotzdem stimmt nichts mehr. „Alles ist hin“, summt sie ganz leise.

 

„Halt aus!“, flüstert Wladi ihr ins Ohr, während das angetrunkene Publikum einen Kuss vermeint und begeistert applaudiert. Mit letzter Kraft legt Lydia ihre Hand auf seine Schulter. Ihre weißen Fingerspitzen sehen aus wie Krallen auf seinem Smoking. Ihr ist alles egal. Sie wird sterben, das weiß sie. Sie will sterben. Jetzt. Wladi spürt das.

 

Er macht einen weiten Schritt nach vorn und lässt Lydia auf sein Knie sinken. Das Orchester merkt, dass etwas anders ist als sonst und passt sich ihm mit langem Ziehen des Bandoneons an. Jeder Ton wartet und seufzt, dehnt sich unendlich. Dann legt Wladi die tote Lydia auf dem Tanzboden nieder, verbeugt sich und geht. Die Gäste sind begeistert. Das ist Tango!

 

Sogar die beiden Hilfsarbeiter, die kurz darauf die Leiche vom Tanzboden entfernen, werden begeistert beklatscht. Was für ein Abend! Was für eine Show!

 

Ob Lydia als Übungsobjekt für sezierende Studenten in der Berliner Charité landete oder in einem Massengrab entsorgt wurde, ist unbekannt. Niemand hat sie je als vermisst gemeldet.

 

 

Version 2