Von Jochen Ruscheweyh
Ich spürte, dass ich sie an Mabuse verlieren würde. Klara war nicht mehr das Mädchen, das in dem Haus gegenüber aufgewachsen war. Ihr Teint wirkte so blass, der Körper dünn und ausgemergelt, die Augen trüb, starrten ins Leere. Das konnten auch nicht die teuren Kleider, die sie trug, der wertvolle Schmuck, den sie angelegt hatte, wenn der Wagen sie in den Abendstunden abholte, überspielen.
Mabuse ist tot. Begreif das endlich. Er ist keine Gefahr mehr, für niemanden.
Tagsüber versperrten grüne Holzläden den Blick in ihr Zimmer. Einer Anstellung konnte Klara schon seit Wochen nicht mehr nachgehen, davon war ich überzeugt. Im Sommer noch waren wir uns jeden Morgen begegnet. Hatte ich so lange im Hausflur gewartet, bis mich der Geruch von Bohnerwachs fast schwindelig machte, nur um den Moment abzupassen, wenn sich die Haustür auf der anderen Straßenseite öffnete und Klara hinaustrat. Den Tag mit einem Lächeln begrüßte, mehr Licht und Strahlen in die Morgendämmerung brachte, als es sämtliche Laternen des Stadtteils vermocht hätten. Es war stets nur eine flüchtige Sekunde, in der ich meinen Hut zog, und sie ein wenig schüchtern, aber mit einem dennoch kecken Blick antwortete.
Warum kann ich seine Präsenz dann fühlen, riechen, auf meiner Zunge schmecken? Wieso ist die Luft, die ich einatme, nicht frisch, sondern mit seinem beißenden chemischen Geruch angereichert?
Ich kaufte Blumen für Karla bei Tillmanns an der Ecke, Nelken, herrlich frische, prächtige Exemplare, wählte jede einzelne sorgfältig aus und wies das Lehrmädchen an, wie sie das Schleierkraut dazu arrangieren sollte. „Meine Freundin und ich gehen Samstag Nachmittag tanzen“, eröffnete sie mir mit geröteten Wangen, während sie den Strauß in Papier einschlug.
„Ein neues Lokal, ganz fein und nicht weit von hier …“
Sie schob mir eine Karte hin. In den Serifen, im Aufschwung der Buchstaben, in der Laufweite erkannte ich Mabuses Handschrift.
Ich mied Tillmanns, fand einen anderen soliden Floristen ein paar Straßenzüge weiter, dessen Nelken mir weniger frisch erschienen, aber immer noch geeignet, um mit dem Gruß eines stillen Verehrers auf der Treppe zu Karlas Haus platziert zu werden. Es zerriss mich innerlich, dass ich nicht den Ausdruck auf Karlas Gesicht sehen konnte, wenn sie den Strauß aufhob. Andererseits war das geheime Wissen, den Absender, nämlich mich, zu kennen, etwas, dass mir ein Hochgefühl verschaffte.
Du verrennst dich da in etwas. Mabuse ist zu Staub verbrannt in seinem Laboratorium. Er war ein Wahnsinniger, nicht wert, dass man sich seiner erinnert.
Gerade als ich mich kurz davor befand, aufgrund dieser miteinander konkurrierenden Gefühlslagen den Verstand zu verlieren, ereignete sich eines späten Abends folgendes: Weil sich der Schlaf bei mir nicht einstellen wollte, unternahm ich noch einen kleinen Spaziergang, von dem ich just zurückkehrte, als eine dunkle Limousine vor Karlas Haus hielt. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Tür auf der Gegenseite hinten, aus der eine junge Frau ausstieg. Mir zog es das Herz zusammen, als ich sah, dass es sich um Karla handelte, die schwankte, obschon der Arm des Fahrers sie stützte.
Auch wenn ich mich noch in einiger Entfernung befand, konnte ich hören, wie ebendieser auf Karla einredete, ein Wort das andere gab, so dass er sich schließlich auf unverantwortliche Weise ihrer entledigte, indem er sie auf der Treppe absetzte, sie ihrem Schicksal überließ und zu seinem Wagen zurückkehrte.
Ich dachte nicht lang nach, sondern näherte mich ihr mit zügigen Schritten. Auch wenn es sich nicht schickte, mir nicht zustand, setzte ich mich neben das Häufchen Elend, das Karla augenblicklich war, auf die Treppe. Wie von einer unsichtbaren Macht geführt, fand mein Arm seinen Weg um ihre Schulter herum. Als habe sie nur auf diese Geste gewartet, rückte sie näher an mich heran. Wir sahen uns an. In diesem Moment war ich überzeugt, dass sie wusste, dass ich als Absender hinter dem Blumengruß stand. Sie legte den Kopf leicht in den Nacken. Ihre Lippen, die sonst so einladend leuchteten – der Schein der Laternen nahm ihnen jeglichen Glanz, überzog sie mit einem gespenstischen Grau, Mabuses Farbe.
„Er zeigt sich mit mir, aber er liebt mich nicht!“, schluchzte sie mit einem Mal hervor.
„Arme Karla“, flüsterte ich, so wie Mabuse es mir auftrug. Ich hatte seine Stimme schon immer klar und deutlich in meinem Kopf gehört, das würde mir mit einem Mal bewusst. Er drängte sich vor meine Gedanken. Ich konnte mich seinem Befehl nicht widersetzen, küsste Karlas kalte Lippen, während meine Hände sich sanft aber bestimmt wie ein zu enger Schal um ihren Hals legten.
Jemand packte meine Arme, riss mich von Karla weg. Es erstaunte mich, wie schnell ihre Haut wieder einen frischen Teint annahm, wie sie mir vollkommen undamenhaft ins Gesicht spuckte, ihren Hass entgegenschrie.
„Wir haben die Bestie!“, hörte ich einen Schutzmann rufen.
„Er ist es“, bestätigte ein anderer. „Wir haben Mabuse.“
„Die Herren täuschen sich, mein Name ist Felix Adelhofer. Ich kenne keinen Mabuse.“ Ich wiederholte den Satz wieder und wieder, bis ich ihn selbst glaubte, während das Mädchen, dessen Name mir nicht einfiel, eine Zigarette von einem der Schutzmänner angeboten bekam. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gesehen. Sie erfüllte die Nacht mit dem Duft von Nelken. Ich begann mich aufzulösen, aber Felix Adelhofer mochte ihren Geruch.