Von Alfred Giesen

Das schrille Klingeln des Telefons reißt Leon aus dem Schlaf.

„Welcher Idiot hat sich jetzt wieder verwählt und stört meinen Schlaf“, schimpft er laut vor sich hin. In diesen war er nach einem erotischen Geplänkel mit einem nicht unattraktiven Mitglied seines Stammtisches, von den zu erwartenden Glücksgefühlen leicht benebelt, gefallen. Schlaftrunken knipst Leon seine Nachttischlampe an, um seine Brille, ohne die er das Display seines Telefons nur verschwommen erkennen kann, aufzusetzen. Es ist 9 Minuten nach Mitternacht, und als er den Namen auf dem Display erkennt, greift er wie vom Blitz getroffen zum Telefon. „Jenna, schreit es in ihm, bist du es?“ Als er endlich den Telefonhörer an seinem Ohr hat, hört er nichts weiter als das Freizeichen. Er glaubt, geträumt zu haben.

 

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Endlich hatte sich für Leon auf der zwischenmenschlichen Ebene wieder eine nicht zu verachtende Perspektive eröffnet. Nachdem Jenna an einem frühen Sonntagmorgen vor sechs Wochen schweigend entschwunden war. Kein Wort des Bedauerns war über ihre Lippen gekommen. Ohne Frühstück und ihn keines Blickes würdigend, hatte sie ihn über die Terrasse und durch das kleine Gartentörchen verlassen. Die wenigen persönlichen Dinge hatte Jenna noch in der Nacht eingepackt und alles für ihre Abreise vorbereitet.

 

Für Leon war am Abend zuvor, es war ein wunderschöner, ganz für Verliebte geschaffener, warmer Sommerabend, eine Welt zusammengebrochen. Er hatte geglaubt, ihn mit Jenna bei einem gemütlichen Abendessen und einem guten Glas Wein, verbringen zu können. Es hatte ein romantischer Abend werden sollen, denn sie sahen sich nur an den Wochenenden, wenn Leon seiner kleinen Nebenbeschäftigung nachgekommen war, mit der er seine nicht gerade üppige Rente aufbesserte. Sie erleichterte ihm die nicht allzu große, aber für ihn doch kostenträchtige Distanz von 100 km zu Jenna zu überbrücken. Eine für beide unbefriedigende Situation. Wie sollten sie diese ändern. Leon brauchte diesen Job, dessen Ende zwar absehbar, den er aber mittelfristig nicht aufgeben konnte. Die Zeit arbeitete gegen sie, denn beide hatten schon ein fortgeschrittenes Alter erreicht. Wieviel Zeit blieb ihnen? Ein zeitlich begrenztes Glück, dass sie gemeinsam erleben und genießen wollten.

 

Jenna wohnte in einer kleinen, unscheinbaren Stadt des südlichen Niedersachsen und Leon in einer mittelgroßen Stadt in Ostwestfalen mit viel Grün und einem ausgeprägten kulturellem Leben. Was beiden sehr gefiel. Jennas gelegentliche Bestrebungen, eine geeignete Wohnung in seiner Nähe zu finden, um die für sie beide unbefriedigende Situation aufzulösen, endeten immer in einem Misserfolg. Die Bemühungen waren gekennzeichnet von der fehlenden Entscheidung für zwei oder drei Zimmer, eine gemeinsame oder getrennte Wohnung. Mal hatte Jenna Einwände, mal Leon. Es war zum Verzweifeln. Aber sie genossen die Wochenenden mit einer ihrem Alter angemessenen Leidenschaft, einer Leidenschaft, die  beide nicht mehr für möglich gehalten hatten, sie noch einmal erleben zu dürfen. Leon hatte sich mit dieser Situation arrangiert, wollte die ihnen verbleibende Zeit einfach nur genießen und fühlte sich trotz aller Unzulänglichkeiten glücklich.

 

Der Kellner hatte gerade die Speisen serviert und sie genossen den ersten Schluck des guten Weines, als Jenna mitten im Gespräch anfing, ihre Situation mit eindringlichen Worten zu beklagen. Die Perspektivlosigkeit ihrer Liebe,  Argumente, die Leon alle zur Genüge kannte und die sich gelegentlich auch in sein Bewusstsein schlichen.

 

Ihre Bedenken, in dieser so stimmungsvollen Situation, trafen ihn so unvermittelt wie ein Blitz im Sonnenschein. Sie drangen wie durch einen Nebel zu ihm, so wenig verstand er ihr Verhalten. Zwischenzeitlich beschlich ihn immer wieder der Gedanke, „sollten alle ihre bisherigen Liebesbekundungen nur leere Worte gewesen sein?“ Das konnte doch nicht wahr sein, aber er hatte ihnen nichts entgegenzusetzen. Sie hatte ja Recht. „Sollen wir uns nicht besser trennen und uns nach einem Partner, jeder an seinem Wohnort, umsehen, so lange wir noch ‚jung‘ genug sind?“, schlug sie vor.

 

Eine Möglichkeit, die sie beide schon mehrfach in Betracht gezogen, aber immer wieder verworfen hatten. Vor allem dann, wenn sie aufgrund ihres bisherigen gegensätzlichen Lebens mal wieder gewaltig aneinander geraten und dickköpfig, scheinbar in ihrem Ego verletzt, auseinander gelaufen waren. Jenna hatte das Leben eines Single, alles selbstentscheidend, geführt. Leon aus einer langjährigen Partnerschaft kommend, war gewohnt, alles gemeinsam zu entscheiden.

 

Glücklicherweise konnte keiner von ihnen ohne den Anderen, so dass sie immer nur für kurze Zeit getrennt waren. Die Sehnsucht nach dem Anderen überwog und brachte sie immer, für ihre Freunde vollkommen unverständlich, wieder zusammen. Doch jetzt schien alles vorbei, denn sie hatten keine Auseinandersetzung, waren nicht gegensätzlicher Meinung. Nein, sie waren sich in der Argumentation sogar vollkommen einig. Sie beschlossen, sich in gegenseitigem Einvernehmen endgültig zu trennen und, wenn sich der Schmerz der Trennung gelegt hatte, sich die spätere Möglichkeit gute Freunde zu werden offen zu halten.

 

Mit dieser Vereinbarung traten beide schweigend den Heimweg an. Jenna zog es vor, auf der Couch zu schlafen.

 

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Mit fahrigen Fingern sucht Leon die Anrufliste auf dem Telefon und richtig, er hat nicht geträumt. Ihr Name erscheint als letzter Eintrag „Jenna 0:09 Uhr“. Sie hat angerufen, nach sechs Wochen verzweifeltem, hoffnungsvollem Warten endlich ein Lebenszeichen. Es scheint sich eine Hoffnung zu erfüllen, die er, je mehr Zeit vergangen war, schon fast aufgegeben hatte. Soll er zurückrufen, um Gewissheit zu erhalten? Nein, die Blöße will er sich nicht geben, keine Schwäche zeigen, darum sucht er nach einer Möglichkeit, den Grund dieses Anrufes heraus zu finden.

 

Sein Handy, ja, das war es, sie hatten immer über WhatsApp kommuniziert. Also eine kurze Anfrage:

„War wohl ein Versehen?“.

 

Abwarten, ob, und überhaupt, was sie, antwortet. Es dauert nicht lange und Leon bekommt eine für ihn unbefriedigende Antwort:

„Ja, hatte ein technisches Problem mit meinem Handy“.

 

Die anfänglichen Freude weicht der Enttäuschung und er will schon aufgeben, aber dann entschließt er sich, doch zu antworten:

„Hätte mich aber sehr gefreut“.

 

Enttäuscht beschließt er, sich auf Neues zu konzentrieren und denkt wohlwollend an die am Abend angeknüpfte vielversprechende Beziehung.

 

Darüber schon fast wieder eingeschlafen, klingelt sein Telefon erneut. Wieder ist es Jenna, er nimmt ab, und jetzt hört er erfreut ihre freundliche, aber verunsicherte Stimme. Nach einer förmlichen Entschuldigung für die nächtliche Störung und dem Ausdruck des Bedauerns für das Geschehene tauschen sie, wie schon vor sechs Wochen, Argumente des Für und Widers aus. Nur dieses Mal ist es anders, dieses Mal versichern sie sich auch immer wieder ihrer Liebe. Was letztlich in dem Entschluss endet, die ihnen verbleibende Zeit trotz aller Widrigkeiten so lange wie möglich zu genießen. Insgeheim ist beiden klar, „Einer muss sich bewegen“. Sie beenden übermüdet, aber glücklich das Gespräch und Jenna verspricht, seinen Wunsch, bis spätestens gegen 15:00 Uhr bei ihm zu sein, zu erfüllen.

 

Vom Küchenfenster aus beobachtet Leon ungeduldig die Straße vor dem Haus. Wann kommt sie endlich? Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit hält ihr Wagen, er läuft hinaus, schließt Jenna überglücklich in seine Arme. Die ihm über das Gesicht laufenden Freudentränen versucht er, verzweifelt zu verbergen.

 

Sie hat strahlende Augen, die ihn liebevoll anblicken und sie kommt auf dem gleichen Wege, aber anders als sie gegangen war, seinen Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss verschließend.

 

 

 

© Alfred Giesen