Von Monika Huhn

Fast jeden Tag lief Martha von ihrer Wohnung zum Schlosspark. Sie liebte es schon immer, möglichst viele Wege zu Fuß zu gehen, doch inzwischen ging es immer langsamer. Sie hielt sich gerade, achtete auf eine schlanke Figur und ihre grauen Haare hatte sie sich zu einer flotten Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Ihre 81 Jahre sah man ihr noch lange nicht an.

Im Schlosspark setzte sie sich auf eine Bank und genoss die Natur. Sie liebte es, den jungen Leuten zuzusehen, die im Park Frisbee oder Boule spielten, jonglierten oder einfach nur im Gras lagen und lasen oder in ihre Handys tippten. Einige kannte sie bereits, manche kamen zu ihr auf die Bank und unterhielten sich mit ihr.

Heute nun konnte sie ihre übliche Strecke nicht laufen, in der Goethestraße war eine Baustelle und nicht nur die Straße, sondern auch die Gehwege waren gesperrt. Martha beschloss deshalb, über die Fußgängerbrücke durch die Karlstraße zu gehen. Dieser Umweg führte sie an einer Galerie vorbei, von deren Schaufenster sie wie magisch angezogen wurde. Eine Zeichnung fesselte sie so sehr, dass sie stehen blieb. Das Bild war schwarzweiß, es zeigte ein Liebespaar, das sich umarmte und küsste.

Durch das Bild wurde sie an ihre Jugend erinnert, als 16-jährige war sie zum ersten Mal im Kino, Richard hatte sie eingeladen. Es wurde „Casablanca“ gezeigt, die Schlussszene dieses Films hatte sie beim Betrachten des Bildes vor Augen.

Martha stand lange vor dem Schaufenster, sie ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen.

Richard war ein Freund ihres Bruders, da ihn ihre Eltern bereits kannten, erlaubten sie den Kinobesuch. Und dort hatte sie Richard das erste Mal geküsst. Nach diesem Abend trafen sie sich den ganzen Sommer über fast täglich, sie waren so sehr ineinander verliebt. Sie unternahmen viele Spaziergänge, gingen zum Fluss, in den nahen Wald oder um den See. Doch am liebsten trafen sie sich im Stadtgarten und saßen händchenhaltend auf der Bank am Ententeich.

Aber auch der schönste Sommer ging vorbei und mit Beginn des Herbstes musste Richard die Stadt verlassen, er hatte in München einen Studienplatz ergattert. In den ersten Wochen schrieben sie sich viele Briefe, doch mit einem Mal blieben Richards Briefe aus und Marthas Briefe kamen mit dem Vermerk „Unbekannt verzogen“ wieder zurück.

Martha seufzte, sie kam langsam in die Gegenwart zurück. Da sie ja sowieso einen anderen Weg nehmen musste, beschloss sie, dass sie ebenso gut in den Stadtpark gehen könnte. Dort war sie seither nie mehr gewesen, da sie alles zu sehr an die schöne Zeit mit Richard erinnerte. Sie lief zum Ententeich und setzte sich dort auf die Bank, die noch an derselben Stelle stand wie vor 65 Jahren. Mit geschlossenen Augen saß sie da und träumte von ihrer Jugend.

Plötzlich hörte sie ein Räuspern. Sie öffnete halb die Augen, neben ihr stand ein älterer Herr. „Darf ich mich ebenfalls auf die Bank setzen?“ fragte er höflich. „Selbstverständlich“, antwortete Martha und schloss wieder ihre Augen, sie wollte weiter ihrer Jugend nachspüren.

Nach ein paar Minuten hörte sie erneut ein Räuspern. „Entschuldigen Sie, ich möchte Sie ja nicht stören, aber…“ der Mann neben Martha stockte.

Martha schlug die Augen auf. „Ja?“ fragte sie.

„Kann es sein, dass wir uns kennen?“

Sie schaute ihn zweifelnd an. „Nein, ich glaube nicht“, erwiderte sie.

„Doch, ich bin sicher, heißen Sie Martha?“ Der Mann schaute sie fragend an.

Irritiert drehte sich Martha zu ihm um und musterte ihn nun genauer. „Ja, stimmt, mein Name ist Martha. Aber es tut mir leid, ich kenne Sie nicht“, antwortete sie und versuchte, mehr Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, das Ganze war ihr nicht geheuer.

„Nun, das wundert mich nicht, dass du mich nicht erkennst nach all den vielen Jahren.“ Er war zum vertrauten „Du“ übergegangen. „Aber vielleicht willst du mich auch gar nicht mehr kennen, ich bin es, Richard!“

Verblüfft schaute sie ihn genauer an, konnte das sein, so ein Zufall, gerade heute? Seine Augen, das markante Kinn, er könnte es sein, aber sie war sich sehr unsicher. „Nein, ich weiß nicht genau, Richard lebt, soweit ich weiß, in München.“

„Doch, ich bin Richard, und ich bin 1952 nach München gegangen. Aber jetzt bin ich seit einigen Jahren wieder zurück in unserer Stadt.“

Martha, die gerade von ihrer Jugend und von der Zeit mit Richard geträumt hatte, war komplett durcheinander, sie konnte das gar nicht fassen, weil gerade heute der Zufall sie hierher geführt hatte. Ihre Gefühle überschlugen sich und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. Sie antwortete ihm mit zittriger Stimme: „Du hast mir damals einfach nicht mehr geschrieben und alle meine Briefe kamen wieder zurück.“

„Das Haus, in dem ich in München wohnte, ist abgebrannt und ich wurde schwer verletzt. Erst nach fast eineinhalb Jahren bin ich wieder soweit gesund gewesen, um mich bei dir zu melden. Aber deine Adresse stimmte nicht mehr und auch die alten Bekannten wussten nichts von dir!“ Auch Richards Gefühle fuhren Achterbahn, er hatte Martha all die Jahre nicht vergessen können.

„Oh, Gott, dass konnte ich ja nicht ahnen, ich dachte, du hast in München eine bessere Partie gefunden und mich vergessen. Meine Eltern sind umgezogen und ich habe damals sehr schnell geheiratet, habe heiraten müssen“, erwiderte sie ihm mit erstickter Stimme.

„Das heißt… was heißt das…?“

„Ja, ich war schwanger – von dir. Und du weißt ja, in der damaligen Zeit war eine Frau mit einem unehelichen Kind eine Schande für die ganze Familie!“

Richard schaute sie mit großen Augen an, Tränen liefen ihm übers Gesicht. „Ich habe, nein, wir haben ein Kind?“

„Ja, eine Tochter, sie heißt Klara und lebt hier in der Stadt. Aber sie weiß nicht, dass mein verstorbener Mann nicht ihr leiblicher Vater ist.“

„Ich mache mir solche Vorwürfe, ich hätte intensiver nach dir suchen müssen.“

„Aber du konntest ja nichts dafür, das Schicksal ist manchmal grausam.“

„Seit ich wieder in der Stadt bin, bin ich, wann immer es meine Zeit zuließ, zu unserer Bank hierher gegangen und habe gehofft, dich hier zu treffen. Aber jetzt hatte ich die Hoffnung bereits aufgegeben, heute sollte es das letzte Mal sein, dass ich hier auf dich warte.“

„Und ich war, seit wir uns das letzte Mal vor deiner Abfahrt nach München hier getroffen haben, nie mehr hier, nur heute, heute habe ich ein Bild gesehen, das mich an unseren ersten Abend im Kino erinnert hat, deshalb bin ich heute hier!“

Sie sahen sich tief in die Augen und ihre Hände fanden wie selbstverständlich zueinander. Gemeinsam erhoben sie sich und liefen wie früher Hand in Hand um den Ententeich.