Von Florian Ehrhardt
„Ich kann gar nicht fassen, dass ich mich so lange dagegen gewehrt habe!“ Sie beißt herzhaft in ihr Marmeladenbrot. Sonntagmorgen auf dem Schlossberg, die Nacht verzieht sich erst langsam und macht doch jetzt schon Platz für die drückende Hitze eines Sommertages.
„Die Stadt liegt noch im Tiefschlaf“, würde ich gerne sagen, aber eigentlich ist es ja ganz anders. Das Gehupe der Autos, das emsige Summen der Menschen und das Läuten der Kirchenglocken sorgen jetzt schon dafür, dass der allumfassende Lärm sich langsam seinen Weg bahnt, durch das Tal kriecht und selbst von hier oben zu hören ist. Doch als die Marmelade vom Brot rutscht und an ihren wunderschönen Lippen hängen bleibt, sind der Lärm und das Gewusel der Stadt vergessen.
In meinem Universum gibt es nur noch Lisa und den Picknickkorb. Nur wir zwei, eine Insel in den Wolken. „Ja“ erwidere ich geistesabwesend. „Das frühe Aufstehen hat sich echt gelohnt.“ Die Sonne taucht den Himmel in ein herrliches Rot. Sie erwidert meine Antwort mit einem breiten Grinsen. „Ich glaube du weißt genau, dass ich mit dem frühen Aufstehen die geringsten Probleme hatte.“ Jetzt darf ich schmunzeln. „Also ist das jetzt ein Date?“ Sie lächelt und erwidert strahlend: „Das Beste, das ich je hatte! Andere wollen immer nur ins Kino, damit ich mich im Horrorfilm an sie klammere. Dabei ist es hier oben doch viel schöner!“ Jetzt erröte ich bestimmt wirklich.
Ein Flugzeug zieht einen schneeweißen Kondensstreifen durch den blutroten Himmel. „Das Leben kann so schön sein.“ Sie stimmt mir mit einem Nicken zu. Um neun Uhr öffnet das Schloss für Touristen. Der Riss in der Burgmauer war wohl die beste Entdeckung meines Lebens. Unser Picknickkorb ist immer noch bestens gefüllt, wir hätten sicher genug Vorrat dabei, um den ganzen Tag zu bleiben. Aber auf die blöden Fragen der Museumsführer habe ich jetzt eher weniger Lust. Lisa hat sogar ein kleines Kofferradio dabei. Ich wusste nicht einmal, dass es solche Dinger heutzutage noch gibt, aber der Empfang ist perfekt. Musik läuft. Ich kenne das Lied nicht, irgendein neuer Popsong, aber momentan ist es das beste Lied, was die ganze weite Welt zu bieten hat.
„Was denkst du, was die Leute in dem Flugzeug da oben gerade denken?“ Die unsinnigste Frage der Welt wird plötzlich zur wichtigsten. „Ich weiß es nicht“ Meine Antwort scheint sie nicht zu befriedigen. „Dumme Frage, dumme Antwort, hmm?“ Ich lächle verschmitzt. „Ja, das ist wohl so. Aber egal was sie denken, sie sind dem Himmel bestimmt nicht näher als ich gerade.“ „Uäh, du Schleimer!“ Ihr Grinsen wird noch breiter und sie bricht in schallendes Gelächter aus. Das Flugzeug zieht weiter seinen schneeweißen Kondensstreifen über den roten Himmel und verschwindet dann am Horizont.
Aber das nächste bahnt sich bereits seinen Weg durch die vereinzelten Wolken. Es ist schneller. Größer. Irgendwie sogar unheimlich. Ich wende meine Augen vom Himmel ab. Der Popsong im Radio ist vorbei. Ein Nachrichtensprecher faselt irgendwas. In der Ferne donnert es.
„Ein Gewitter am Morgen?“ Sie blickt mich fragend an. Und dann mit mir gemeinsam in den Himmel. Das Flugzeug ist nun genau über uns. Es fliegt tief und ist für den Lärm hier verantwortlich. Brüllend und im hässlichsten Stahlgrau der Welt verschmutzt es den perfekten Sonnenaufgang. Doch der Spuk ist schnell vorbei, der hässliche fliegende Stahlklotz macht sich auf den Weg zum Horizont. Das Zwitschern der Vögel ist endlich wieder zu hören.
Doch schon wird das Federvieh wieder unterbrochen, diesmal durch den Mann im Radio. Wir hören ihm kaum zu, so sehr scheinen wir gegenseitig von uns fasziniert zu sein, doch eins seiner Worte verstehen wir beide. „Bombe.“ Wir schauen uns kurz fragend an. Hat er nur den Sommerhit gemeint? Wir blicken noch einmal dem stahlgrauen Flugzeug hinterher, das nun schon am Horizont verschwindet.
Sogar die Stadt unter uns scheint für eine kurze Zeit sehr still, doch dann brummt es auch schon weiter. Es gelingt uns, die Augen vom Himmel im Westen abzuwenden. Wortlos blicken wir uns an. Sekunden scheinen zu Stunden, Tagen und Jahren zu werden. Dann bricht sie das Schweigen: „Jetzt küss mich doch endlich!“ Ich beuge mich vor, schließe die Augen, unsere Lippen kommen sich immer näher. Schon wieder werden aus Sekunden Äonen. Dann – endlich – treffen sich unsere Lippen.
Die Welt explodiert.