Von Hannes Wille

 

„Wollen wir nicht ein paar Blumen mitnehmen?“, schlägt Astrid vor und bleibt an den Stufen des Geschäftes stehen.

„Astern, Astrid?“, frage ich und spüre, wie sie sich im Zustand beginnender Wut aus meinem Arm löst. Ich nutze die Situation, stelle mich dicht vor sie. Ihr Zorn verschwindet in meiner Umarmung. Schon spüre ich ihre Lippen an meinem Mund.

 

 

Wir gehen langsam. Der Sonntag ist still. Die späte Herbstsonne verschwindet hinter bunten Pappeln am Horizont.

„Ich weiß, dass du keine Schnittblumen magst“, sagt Astrid. Sie bleibt plötzlich stehen, dreht sich zu mir.

„Sag mal“, fragt sie zögernd, „hast du Karin früher öfter Blumen mitgebracht oder war das nichts für sie?“

Ich ziehe eine kleine Windmühle aus der Tasche.

„Abgeschnittene Pflanzen sterben“, antworte ich und puste in die Flügel. „Das Ding hier ist zwar nur Mechanik, aber durch den Wind viel lebendiger als jede Schnittblume.“

Astrid schiebt meine Hand mit der Mühle zur Seite und streckt sich zu mir. Wieder spüre ich ihre Lippen auf meinem Mund.

 

 

Böser Wind treibt Laub über den Weg. Wir weichen einer älteren Frau aus, grüßen sie mit freundlichem Lächeln. Hinter einer Biegung bleiben wir am Wegrand stehen. Zwei Eichhörnchen jagen am Stamm der Silbertanne nach oben.

„Erzähl mir von deinem ersten Kuss“, fordert Astrid und ich erkenne an ihrer Stimmlage, dass ich ernsthaft antworten muss.

„Damals war ich fünfzehn“, beginne ich. „In unserer Klasse haben wir mindestens einmal monatlich gefeiert. Bei solchen Feten gehörten besondere Spiele immer dazu. Eines nannten wir das Kussspiel. Aus einer Pappschachtel mussten die Jungen Lose mit einer Nummer ziehen, aus einer anderen die Mädchen. Wer die Nummer drei zog, wurde Kusskandidat. Damit die Sache für die Betroffenen geheim blieb, gingen alle Mädchen hinaus und schauten draußen nach ihrer Nummer drei. Bei uns Jungen traf es mich. Also wurden mir die Augen verbunden. Die Mädchen führten die weibliche Nummer drei zu mir. Ich hatte keine Ahnung vom Küssen, stand mitten im Raum. In meinem Kopf rauschte es und ich hoffte, dass niemand meine Aufregung bemerkte. Ich griff vorsichtig nach vorn, fühlte weiche Haare und beugte meinen Kopf ein wenig herunter. Im ersten Moment glaubte ich an einen schlechten Scherz, als sich eine Zunge in meinen Mund schob. Mein Denken setzte völlig aus. Ganz kurz spürte ich einen Fluchtinstinkt. Was für eine eklige Sauerei! Ich wollte die Binde abwerfen und als guter Verlierer in einsetzendes Gelächter einstimmen. Aber eine Sekunde später dachte ich völlig anders. Meine Gedanken an Ekel und Spucke verschwanden. Eine besondere Kraft zog mich hinein in diesen Kuss. Ich dachte an Vanillepudding, an einen warmen See. Ganz schnell begriff ich, wie ein Kuss funktioniert. Hinter einem Vorhang verschwand meine Umgebung. Da war niemand mehr, nur mein erster Kuss, der mir plötzlich ganz selbstverständlich schien. Frei und weit fühlte ich mich, und als die Welt grenzenlos wurde, zog sich das Mädchen zurück. Ich hätte weiter küssen können, immer weiter. Etwas später durften wir die Augenbinden abnehmen. Wir standen ein wenig irritiert voreinander, lachten beschämt und wussten nicht, worüber wir reden sollten. Später tanzten wir.“

 
Astrid lächelt. Sie kann ganz besonders lächeln und in diesem Moment liebe ich sie sehr tief. Wir stehen still vor dem Stein. Unsere Hände berühren sich.

„So begann es mit Karin“, sage ich, bücke mich und stecke die Windmühle in die lockere Erde. Etwas später gehen wir den Weg zurück. Unterdessen ist die Sonne fort. Wir beeilen uns. Die Tore des Friedhofs werden bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen.

  1. überarbeitete Version