Von Eva Fischer

Jan sitzt in der ersten Reihe. Lieber säße er in der letzten, doch am liebsten wäre er gar nicht hier.

Susanne greift nach seiner Hand, drückt sie liebevoll. Sie spürt, dass er gegen die Tränen ankämpft. Tränen der Trauer, der Wut und der Enttäuschung!

Auf der gegenüberliegenden Reihe sieht er in versteinerte Gesichter, Menschen in seinem Alter. Er kennt sie nur flüchtig. Sie hatten mit seinem Leben bisher nichts zu tun.

Aus Lautsprechern erklingt Mozarts Requiem in Moll.

„Tag des Zornes, jener Tag, an dem das Weltall sich in Staub auflösen wird“, singt der Chor.

 

Zwei Särge stehen aufgebahrt auf einer Empore. In einem liegt seine Mutter. Vor wenigen Wochen noch quicklebendig, glücklich, stets gut gelaunt, wie es schien. Im Dezember wollte sie ihren 70. Geburtstag feiern. Auf Jans Hochzeit hatte sie sich gefreut. Er würgt, weiß nicht, ob er diese Zeremonie hier überstehen kann, ohne sich zu übergeben. „Gerechter Richter der Vergeltung…“

Wie konnte er ihr das antun? Jan schaut auf den Sarg daneben.

 

Martin war Jäger aus Leidenschaft. Es gab für ihn nichts Schöneres, als im Morgengrauen auf einem Hochstand dem Wild aufzulauern, das er dann mit einem gezielten Schuss zu Fall brachte.

Jans Vater, ein Metzger, und Martin waren gute Freunde gewesen bis zu dem Zeitpunkt, als sein Vater spürte, dass sich irgendetwas zwischen Martin und seiner Frau abspielte. Martin, der charmante, joviale, großzügige Sonnyboy, eroberte das Herz seiner Mutter im Sturm. Sie faselte etwas von der Liebe ihres Lebens und dass sie nie gedacht hätte, dass ihr das in ihrem Alter passieren könne. Wenig später verließ sie ihren Mann. Auch Martin ließ Frau und drei erwachsene Kinder ratlos zurück.

 

Jan gewöhnte sich an den Gedanken, dass seine Mutter nun mit einem neuen Mann glücklich war. Sein Vater tat ihm zwar leid, aber meist war er muffelig und als feurigen Liebhaber konnte er sich ihn auch nicht recht vorstellen.

War Sex im Alter noch so wichtig? Gab es nicht andere Dinge, die seine Eltern verbanden? Sie hatten sich gemeinsam ein Geschäft aufgebaut, besaßen gemeinsame Erinnerungen, ein großes Haus mit Garten.

Ist Liebe ein Virus, der die Menschen krank im Kopf macht?

 

Jan ballt seine Hände zu Fäusten. Warum hast du meine Mutter erschossen? Reichte es nicht, dass du dir die Kugel gibst aus welchen Gründen auch immer? Man munkelt, du hattest Krebs. Na und? Kein Grund, den anderen mit in den Tod zu nehmen! Ist das Liebe? War sie überhaupt damit einverstanden? Die Frage, die nie geklärt werden kann, bringt Jan schier um den Verstand. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Schlaflose Nächte, seit die Hiobsbotschaft durch die Polizei eingetroffen ist, nagen an seinen Nerven.

 

„Mörder!“, schreit er plötzlich laut auf. „Mörder! Mörder!“ Seine Stimme versagt, verwandelt sich in ein Krächzen und schließlich in ein Schluchzen.

Susanne nimmt ihn fest in die Arme. „Komm, wir gehen“, sagt sie sanft. „Wir hätten nicht herkommen sollen.“

Er lässt sich willig aus der Kapelle führen. In der letzten Reihe bemerkt er seinen Vater im schwarzen Anzug, leichenblass.

 

*

 

Jan ist nervös. Er raucht schon vor dem Frühstück eine Zigarette, nimmt hastig einen Schluck Kaffee. Heute wird gefeiert! Durch nichts und niemanden will er sich diesen Tag verderben  lassen. Trotzig bläst er den Rauch in den grauen Dezemberhimmel.

Hochzeiten finden in der Regel im Frühling, Sommer oder Herbst statt, aber Susanne und er haben den Winter gewählt. Als Hochzeitsreise wollen sie in den Schnee, den beide so lieben. Sie werden mit den Skiern die Piste hinunterjagen, sich übermütig mit Schneebällen bewerfen, sich im T-Shirt von der Mittagssonne bräunen lassen. Und dass es früh dunkel wird, ist grandios. Sie werden sich gegenseitig wärmen, sich aneinander schmiegen. Er wird Susanne aus dem Skianzug schälen, sie auspacken wie ein Kind sein Weihnachtsgeschenk und dann werden sie sich bis zum nächsten Morgen lieben. Susanne, das Beste, was ihm bisher in seinem Leben passiert ist!

„Gefalle ich dir?“ Susanne ist in die Küche gekommen, dreht sich kokett in ihrem weißen Kleid.

„Du bist die schönste Braut der Welt!“

Susanne strahlt und Jan küsst sie verliebt auf den Mund.

 

*

 

Die wartenden Freunde jubeln, als das Paar aus dem Auto steigt, einem schwarzen, 30 Jahre alten, blumengeschmückten Mercedes.

In der ausgebauten Mühle findet die Hochzeitszeremonie statt. Der Standesbeamte bittet beide um ihr Ja-Wort, das sie, ohne zu zögern, bereit sind zu geben. Bevor sie zum Restaurant am Fluss gehen, treffen sie sich vor der Mühle zu einem Glas Sekt und zum Fotoshooting.

 

„Die schönsten Fotos werden am Hochzeitstag gemacht“, sagt die Fotografin. Susanne ist ihr Glück ins Gesicht geschrieben. Ihr Lächeln ist strahlender als das der Sonne, die sich hinter den Wolken versteckt hat.

Abseits von den in Gruppen stehenden, sich amüsierenden Freunden sieht Jan eine einsame Gestalt im schwarzen Anzug. Er kneift die Augen zu. Ist das sein Vater? Er hatte ihn zwar vor Monaten eingeladen, aber da hatte er abgesagt, weil er seiner Ex- Frau und ihrem neuen Lover nicht begegnen wollte. Nun steht er da wie ein Mahnmal.

Susanne ist seinem Blick gefolgt. „Ach schau mal! Dein Vater ist doch gekommen.Wie nett!

Wollen wir ihn nicht mit einem Glas Sekt begrüßen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt Susanne ein Glas vom Tisch und eilt ihm entgegen. Jan geht ihr hinterher. Er sieht, dass sein Vater leicht schwankt. Er wird doch nicht schon Schnaps getrunken haben? Sein Verdacht erhärtet sich, als er in das gerötete Gesicht schaut.

„Junge, lass dich umarmen!“ Nun riecht er auch unverkennbar den strengen Alkoholgeruch.

Jans Miene verdunkelt sich.

„Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, wie sich das gehört für eine Hochzeit.“

Er überreicht Jan ein kleines Paket, das dieser nur zögernd entgegennimmt.

„Pack es aus, Junge!“ befiehlt er.

Jan starrt ihn böse an. Wie kann sein Vater es wagen, in diesem Zustand an seinem Festtag aufzutauchen?

„Tu ihm den Gefallen! Pack es aus“, interveniert Susanne.

„Nur, wenn du hinterher verschwindest.“

„Klar doch! Was habe ich mit den Jungen hier zu schaffen“. Er macht eine ungeschickte Handbewegung in Richtung der Gäste, die aufgehört haben zu reden und neugierig herüberschauen, wie Jan nun bewusst wird.

Wütend zerreisst er das Geschenkpapier. Da sieht er ein Foto in einem Rahmen.

Eine Frau hat den Kopf nach unten geneigt, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, bereit für einen Kuss, den ihr ein Mann auf die Lippen drückt. Mit ihrer Hand umfasst sie seine Schulter.

Das Foto ist schwarz-weiß, zeigt nur die Umrisse von Menschen, aber Jan erkennt dennoch seine Eltern wieder, wie sie vor seiner Geburt ausgesehen haben mögen.

„Macht es mal besser!“ sagt sein Vater. Dann dreht er sich um und geht mit erstaunlich festen Schritten den Weg am Fluss zurück. Die schwarze Gestalt wird immer kleiner, bis sie sich im Nebel auflöst. 

 

„Wer war das?“, fragen kurz darauf die Freunde.

„Das war mein Schwiegervater. Er hat vor kurzem seine Frau verloren“, erklärt Susanne. „Aber keine trüben Gedanken mehr! Lasst uns weiterfeiern!“ Sie klatscht aufmunternd in die Hände.

Bald darauf steigen bunte Luftballons mit guten Wünschen in den Himmel auf. Jan schaut ihnen nach, nimmt ein Glas Sekt und trinkt es in einem Zug aus.