Von Beate Fischer
Über fünfzig Jahre ist es nun schon her. Ihre Hochzeit mit Georg. Dieser Tanz. Der innige Moment, den ihr Freund Harry gegen die untergehende Sonne auf dieser Fotografie festgehalten hat. Ungläubig schüttelt Martha den Kopf und dreht das Bild in ihren Händen hin und her. Die Zeit ist mit Überschallgeschwindigkeit an ihnen vorbeigerauscht. Doch manchmal war es ihnen gelungen, sie für ein paar Augenblicke anzuhalten und die Ewigkeit zu spüren.
Sie blickt zum Bett. Georgs Atem rasselt. Seine Lider zucken. Tiefe Falten haben sich in seine Stirn gegraben. Ein dumpfes Stöhnen bahnt sich einen Weg und entweicht zwischen seinen aufgesprungenen Lippen. Seit zwei Tagen ist er nicht mehr aufgewacht. Seine einzige Nahrung ist süßer Tee, den ihm Martha Löffel für Löffel einflößt. Sie weiß, es ist so weit.
***
„Sie interessieren sich für den französischen Film?“
Martha fuhr auf und sah in zwei flaschengrüne Augen, die sie freundlich musterten. Augenblicklich strömte ihr das Blut in die Wangen und sie bekam einen Schluckauf.
„Oh, ich habe Sie erschreckt. Bitte entschuldigen Sie vielmals. Manchmal bin ich ein richtiger Trampel.“
Der junge Mann streckte Martha seine Hand entgegen.
„Georg Funke mein Name. – Ich hoffe, Sie verzeihen mir den Überfall.“
„Natürlich. – Hicks. – Tut mir leid.“, stammelte Martha verwirrt und schlug sich die Hand vor den Mund.
Was war nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so schüchtern. Schließlich war sie mit ihren vierundzwanzig Jahren schon Chefsekretärin in einer großen Modenäherei. Reiß dich zusammen, Martha, schimpfte sie mit sich selbst und zauberte ein Strahlen auf ihr Gesicht.
„Der französische Film?“ Martha zeigte auf das Plakat, das sie betrachtet hatte. „Oui, j’aime la nouvelle vague.“
Ein bisschen angeben konnte nicht schaden.
„Hicks“.
Georg grinste verschmitzt.
„Moi aussi. – Wollten Sie gerade ins Kino? Ich könnte Sie begleiten.“
„Hicks“.
„Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich.“
„Nein, nein“. Martha winkte lässig ab. „Aber ich kenne ‚Jules und Jim‘ bereits. Ich habe ihn schon zweimal gesehen. Sogar im Original.“
„Und, wie finden Sie ihn?“
„Grandios. Witzig. Und tieftraurig. Jeanne Moreau ist hinreißend. Und in Oskar Werner bin ich hoffnungslos verliebt.“
„Ein Glück für mich, dass ich ihm so ähnlich sehe.“
Martha schaute Georg verdutzt an.
„Sie? Ihm ähnlich?. – Hicks. – Mmmh. So Unrecht haben Sie damit vielleicht gar nicht. Naja, Ihre Haare sind dunkler. Aber die Statur könnte passen. Und Ihr Lächeln…“
Martha klimperte mit den Wimpern. Dieser Georg gefiel ihr ausnehmend gut.
„Was ist mit meinem Lächeln?“
„Das erzähle ich Ihnen später – vielleicht. Wie wär’s, wenn Sie mich auf einen Kaffee einladen?“
Zwei Tassen Kaffee und zwei Windbeutel später, wusste Martha von Georg, dass er in alles vernarrt war, was aus Frankreich kam. Er liebte die Chansons von Juliette Gréco und Jacques Brel, auch wenn der – ganz im Vertrauen – Belgier war. Er konnte sich stundenlang in den Schriften von Jean-Paul Sartre und Albert Camus festlesen. Irgendwann wollte er in seinem Traumland leben.
„Und ich bin verrückt nach Frauen, die französisch sprechen“, beichtete er und zwinkerte ihr zu.
Martha rührte verschämt in ihrer leeren Tasse, doch ihr Herz hatte ihr schon längst verraten, dass es verloren war.
„Was machen Sie eigentlich beruflich?“ versuchte sie, ihn von diesem verfänglichen Thema abzulenken.
„Ich bin selbständig“, war seine Antwort und er legte seine Hand ganz sanft auf ihre.
***
„Schorsch, wo bleibst du denn mit dem Lauch?“, rief Martha über ihre Schulter, als sie sich über die Gemüseauslage beugte, um den Salat auf unschöne Stellen zu untersuchen. Sie richtete sich auf und stützte ihre Hände ins Kreuz. Georgs Selbständigkeit hatte sich als Tante-Emma-Laden in einem Vorort entpuppt, den er gemeinsam mit seiner Mutter führte. Seit ihrer Heirat vor zehn Jahren, hatten sie das Geschäft aufgepäppelt, hatten angebaut und Spezialitäten aus Frankreich ins Sortiment genommen. Es kamen sogar Kunden aus der Stadt, die ihren Camembert, ihren Roquefort oder das Foie-Gras aus dem Périgord zu schätzen wussten. „Feinkost Funke“ verhieß das beleuchtete Schild über dem Eingang. Aber das änderte nichts daran, dass dieser Knochenjob Marthas Gesundheit und gute Laune angriff.
Sie stapfte in den Kühlraum, um Georg auf Trab zu bringen.
„Sag mal hast du Tomaten auf den Ohren…“, setzte sie an, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie Georg und die neue Aushilfe knutschend in einer Ecke stehen sah.
Die beiden stoben auseinander.
„Martha, mein Marthalein, sei mir nicht böse. Es ist nicht so, wie du denkst“, beeilte sich Georg zu erklären.
„So, was denke ich denn? Und was kann man an dieser Situation falsch verstehen?“, fragte Martha giftig.
„Oh, ich weiß. Du fühlst dich hier eingeengt. Ein Mann braucht seine Freiheit. Ein Mann hat seine Bedürfnisse. Ich bin immer zu müde, um mit dir zu schlafen und meine Haut wird langsam schlaff am Kinn. Und wahrscheinlich kann Bärbel“, sie zeigte auf die junge Frau, die sich hastig die Kleidung richtete, „viel besser Französisch als ich.“
Martha schnaubte, schnappte sich die Kiste mit dem Lauch und war schon auf dem Weg zur Tür, als ihr noch etwas einfiel.
„Glaub mir, Bärbel, ich weiß, wie schwer es ist, ihm zu widerstehen. Du stellst dich hier gut an und ich will dich wegen diesem Hallodri nicht wieder verlieren. Aber wenn ich euch noch einmal so zusammen erwische, dann weiß ich nicht, was ich tue. – Und du, Georg, geh mir heute aus den Augen, sonst kann es sein, dass ich meine Kinderstube vergesse und mit fauligen Eiern nach dir werfe.“
***
Als Bärbel unter den Laster kam brach für Georg und Martha eine Welt zusammen. Mehr als zwanzig Jahre war sie ein Teil ihres Lebens gewesen.
„Meinst du, wir wären ohne sie glücklich geworden?“, fragte Georg, als er mit Martha am frisch aufgeschütteten Grab stand.
„Vielleicht. Aber anders. – Ich habe dir nie erzählt, wie sie mich getröstet hat, als der Arzt mir eröffnet hat, dass ich keine Kinder bekommen kann. Du hast doch mich, hat sie gesagt. Wenn du möchtest, kann ich deine Tochter sein. Nein, habe ich geantwortet, meine Gefühle für dich sind ganz und gar nicht mütterlich. Damals haben wir uns zum ersten Mal geküsst.“
„Ich habe gewusst, dass du noch auf den Geschmack kommen wirst. Sie war ein Schatz. Und ich habe sie nicht mehr angerührt, bis du mir die Erlaubnis dazu gegeben hast.“
Ihre Hände fanden sich. Ihre Gedanken gingen auf die Reise.
„Sie hat keinen schlechten Tod gehabt“.
Georgs Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
„Naja, von einem Riesenreifen überrollt zu werden, ist sicher nicht sehr angenehm.“
„Ich meine, es ging schnell. Sie hatte keine Schmerzen. – Nur leider war es viel zu früh.“ Georg seufzte.
„Bei mir ist es so weit, wenn ich nicht mehr selbst aufs Klo kann und mein Hirn anfängt, komische Dinge zu denken.“
Martha lachte leise.
„Das zweite ist schon so, seit ich dich kenne“, spottete sie.
„Du weißt, was ich meine, Martha. Dann werde ich freiwillig gehen. Und wenn ich den richtigen Moment verpasse, hilfst du mir. Versprochen?“
Martha fröstelte. Dann nickte sie, fast unsichtbar, Georg spürte es mehr, als er es sah.
***
Georg und Martha saßen in einem Bistro an der Cote d’Azur und nippten an ihrem Pastis. Auf dem Platz gegenüber spielten ein paar alte Männer Boule.
„Das würde mir jetzt auch gefallen.“
Georg sah sehnsüchtig hinüber.
„Aber ich kann doch nicht einfach hingehen und sagen, dass ich mitspielen möchte. – Oder?“
Martha erkannte ihren Georg fast nicht wieder. Seit sie hierher gezogen waren, wurde er richtig anhänglich. Traute sich nicht, sich mit den Nachbarn zu unterhalten oder auch nur ein Baguette zu kaufen. Jetzt, wo sich sein Traum erfüllte, war es, als ob er sich davor fürchtete.
Seit vier Wochen lebten sie nun schon in dieser charmanten kleinen Stadt am Meer, doch Georg hatte noch keinerlei Kontakte geknüpft. Die Krankheit seiner Mutter hatte ihn in Deutschland festgehalten, doch auch nach ihrem Tod, hatte er noch tausend Ausreden parat gehabt, warum sie die Heimat noch nicht verlassen konnten. Er musste immer wieder in den mittlerweile drei Geschäften nach dem Rechten sehen, die sie schon vor einigen Jahren an einen ihrer Angestellten übergeben hatten. Von dem, was monatlich auf ihr Konto floss, konnten sie sich einen angenehmen Lebensabend leisten. Er war mit keinem Ort, keiner Gegend, keiner Wohnung zufrieden, fand bei allem, was Martha vorschlug ein Haar in der Suppe. Bis sie endlich auf den Tisch haute und sagte: „Wenn du nicht mitkommst, gehe ich alleine.“
Seitdem trottete er wie ein trauriger Dackel hinter ihr her.
„Stell dich nicht so an.“
Martha winkte dem Kellner und bezahlte.
„Ich komme mit. Der Herr mit der blauen Baskenmütze ist der Gemüsehändler, mit dem wollte ich sowieso mal reden. Er sucht eine Aushilfe für den Laden.“
***
Martha kehrt aus ihren Erinnerungen zurück. Georg atmet noch. Leise, fast unhörbar. Sie greift nach dem Becher auf dem Nachttisch. Die letzte Ration der Schlaftabletten.
Die letzten Tage war Georg Abend für Abend vor einem Tabletten-Cocktail gehockt, der ihn ins Jenseits befördern sollte, doch letztlich war alles im Ausguss gelandet. Bis vorgestern. Einen Teil hatte er wieder ausgespuckt, dann war er in einen tiefen Schlaf gefallen.
Seit einem Jahr wütet eine unaufhaltsame Krankheit in seinem Körper. Martha weiß, dass er leidet und sie hat es ihm versprochen. Jetzt ist sie an der Reihe. Ihre Hände zittern, die weiße Flüssigkeit schwappt auf den Boden. Sie schreckt auf. Becher und Beherrschung entgleiten ihr.
„Ich kann das nicht,“ schreit sie Georg an. „Wie kannst du das von mir verlangen? Du wolltest das selbst tun. Selbständig, verstehst du?“
Sie rüttelt ihn an den Schultern. Für einen Moment öffnet er die Augen, doch er scheint schon weit weg zu sein. Martha schmiegt ihre Wange an seine Brust. Sein Herz macht noch ein paar Schläge. Dann steht es still.
„Ich wusste, dass du mich am Ende nicht hängen lässt“, wispert Martha. „Du hast es selbst geschafft.“