Von Franck Sezelli
Wie oft haben sich Andreas und Irmgard während des Sommers gesagt, dass sie glücklich sind, ihren lang gehegten Wunsch verwirklicht zu haben?
Dabei war es sehr schwer gewesen im letzten Winter, anstrengend und emotional aufreibend. Wochenlang haben sie den Haushalt aufgelöst, jede Vase, jede Ansichtskarte, jeden Teller dreimal in die Hand genommen, ehe sie in den Müll gewandert sind. Am schwersten war es, sich von den vielen Büchern zu trennen. So viel Platz hatten sie im neuen Heim nicht, da hieß es sorgsam zu überlegen, was mitgenommen werden durfte.
»Weißt du, wie viel Arbeit wir unseren Kindern hiermit abnehmen?«, fragte Andreas nicht nur einmal.
Und Irmgard erwiderte dann: »Ja, irgendwann hätten das die Kinder machen müssen. Ob sie uns dankbar sein werden?«
Viel hatte sich in der letzten Zeit verändert, Gesellschaftliches, Berufliches und Privates. Manchmal fühlten sich die beiden gar nicht mehr wohl in der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen sind. Auch aus diesem Grund fassten sie letztendlich den Entschluss, in den Süden zu ziehen. Sicher spielte das Wetter eine große Rolle bei ihren Überlegungen, neben der besonderen Beziehung zu ihrem Traumland und der schon länger gepflegten Liebe zu dessen Sprache.
Anfangs waren die Kinder ja skeptisch, aber schließlich bestärkten sie die Alten. »Wenn überhaupt, wann denn dann?« Ihr Sohn sprach es aus, was sie selbst dachten.
Der Sommer verlief beinahe genauso wie die vielen Urlaube, die das Rentnerpaar hier verbracht hatte. Als sie nicht mehr so viel arbeiten mussten, waren sie schließlich auch schon monatelang hier gewesen. Vieles war also vertraut. Mit den Nachbarn verstanden sie sich gut, sie trafen wie jedes Jahr dieselben Leute, die hier ihren Jahresurlaub verbrachten. Wie früher saßen sie mit ihnen zusammen, machten gemeinsame Ausflüge und besuchten gute Restaurants im Ort und der Umgebung.
Ihr Schweizer Freund Walter brachte es auf den Punkt: »Ich beneide euch! Ihr lebt nun hier, wo andere Urlaub machen. Wer wünscht sich das nicht?«
***
Draußen heulte der Wind, es klang schaurig. Der Wetterbericht sprach von 120 km/h, jetzt schon den dritten Tag. Andreas sagte sich, dass sie früher im Sommer bei diesen Geräuschen trotzdem ruhig geschlafen hatten. Es passiert nichts. Die Leute leben seit Jahrhunderten hier mit diesem Wetterextrem. Die Häuser und Dächer sind so gebaut, dass sie standhalten. Auch kranke Bäume gibt es hier nicht, weil sie mit dem Wind aufwachsen.
Jetzt aber störte der Wind den Auswanderer. Die Luft pfiff kalt durch die Ritzen der Terrassentüren. Im Zimmer wurde es gar nicht mehr warm.
»So richtig gemütlich ist das nicht!«, maulte Andreas. »Vielleicht haben wir uns das doch nicht so gut überlegt. Weißt du, Irmgard, wie kuschlig unsere Sofaecke in Erfurt war, wenn es draußen schneite?«
»Was willst du? Möchtest du etwa wieder zurück? Wir wussten das doch! Nicht umsonst findet hier jährlich die Mondial du vent statt, wir wussten immer, dass der Ort für die Vergabe des Titels Welthauptstadt des Windes nicht ganz aussichtslos ist.«
»Ja, du hast ja recht! Aber der dauernde Wind macht einen ganz kirre im Kopf. Manchmal zweifle ich doch, ob wir hier bleiben sollen?«
»Wegen der Tramontane? Die hört auch wieder auf! Oder ist es wegen der Kinder? Wie oft haben wir die früher in Erfurt gesehen? Die sind doch mit sich beschäftigt. Und jetzt besuchen wir sie mindestens zweimal im Jahr und sind insgesamt viel länger mit ihnen zusammen. Wir telefonieren jetzt auch viel öfter miteinander. In Erfurt, als sie am anderen Ende der Stadt wohnten, haben wir das nicht so häufig gemacht.
Wir sind doch auch wegen der Sonne hergezogen, 300 Sonnentage im Jahr – wo gibt es das denn sonst?«
»Na ja, es ist eben so ein Gefühl. Die Sonne kommt seit letzten Monat gar nicht mehr auf unsere Terrasse wegen des hohen Nachbarhauses.«
»Na, und? Marie-France hat doch gesagt, dass wir ihre Terrasse nutzen können. Ihr ist es doch lieb, wenn wir ab und zu nach dem Rechten sehen, während sie in Toulouse in ihrer Winterresidenz ist. Es hat dir doch prima gefallen, als du dich an ihrem Haus fast den ganzen Tag lang sonnen konntest – im Dezember! Bei 20 Grad! Im Schatten! In Erfurt waren da gerade mal 5 Grad! Denk dran, was Napoleon von Deutschland gesagt haben soll: Sechs Monate Winter und sechs Monate kein Sommer. Das ist zwar gegenwärtig wegen der Klimaerwärmung ein wenig anders, aber auch da haben wir es besser. Das Meer lässt selbst die größte Hitze erträglich werden, während ich in der jetzt oft herrschenden Affenhitze nicht in einer Stadt sein möchte.«
***
Irmgard rief: »Andreas, komm mal!« Sie stand an der Terrassentür und sah hinaus.
Brummelnd stand der Mann vom Computer auf: »Was gibt’s denn?«
»Schau doch mal! Fällt dir etwas auf? Ist das nicht ein schöner Anblick? Schließlich haben wir Februar!«
Der Wind pfiff laut und die Zypresse bog sich, die Palmwedel wogten hin und her. Gegenüber leuchteten die Fassaden der Häuser in hellem Gelb.
»Du hast recht! Dieses Blau gefällt mir immer wieder! Gerade bei Tramontane leuchtet der wolkenlose Himmel besonders blau und wärmt das Herz. Allein schon wegen dieses Blau würde sich ein Umzug hierher immer lohnen. Keine Angst, Liebes! Natürlich bleiben wir hier!«