Von Herbert Glaser

„Kinder – hört endlich auf zu streiten!“ Robs Stimme übertönte das Gekreische auf der Rückbank und sorgte umgehend für Ruhe. Erschrocken sahen die zwölfjährige Leoni und ihr um vier Jahre jüngerer Bruder Ben zu ihrem Vater. Die Überraschung dauerte allerdings nur wenige Augenblicke.

„Mama hat gesagt“, wandte sich Ben wieder an seine Schwester, „ich darf auch mit deinem Smartphone zocken!“

„Ja, einmal am Tag … du hast heute Mittag im Tierpark schon gezockt.“

„Aber nur kurz!“ Ben schraubte die Stimme um eine Oktave nach oben.

Rob warf Constance auf dem Beifahrersitz einen flehentlichen Blick zu. Die drehte sich zu ihren Kindern um.

„Okay, zu Hause dürft Ihr noch eine halbe Stunde fernsehen.“

„Es ist doch Samstag“, gab Leoni mit Schmollmund zu bedenken.

„Morgen ist keine Schule“, wurde sie von Ben in seltener Eintracht bestärkt.

„Ben nervt total, ich will endlich ein eigenes Zimmer!“

Rob zwinkerte seiner Frau zu. „Wenn wir die beiden verkaufen, können wir uns eine Weltreise leisten, was meinst du?“

 

Nachdem die Geschwister unter gegenseitigen Beschimpfungen in ihrem gemeinsamen Zimmer verschwunden waren, setzte sich Rob im Wohnzimmer auf die Couch und machte den Fernseher an.

Constance schlenderte zum Badezimmer, als das Telefon läutete.

Sie pflückte den Hörer aus der Ladestation, blickte auf das Display und nahm das Gespräch an.

„Mama … ist alles in Ordnung?“

 

Einige Minuten später stützte Constance sich am Türrahmen ab und hielt das Telefon hoch.

„Was ist los, Schatz?“ Rob sprang auf und stellte sich vor seine Frau. „Du bist ja ganz blass, ist was mit deinen Eltern?“

„Sie … du weißt doch, dass sie seit Jahren Lotto spielen, und …“

Rob sah Constance verständnislos an. „Ja, ich weiß, dass dein Vater jede Woche an der Lotterie teilnimmt … und weiter?“

„Heute Abend … nach den Nachrichten hat er die Zahlen verglichen …“

Rob schlug die Hände vors Gesicht. „Heißt das etwa, er hat vergessen, den Schein abzugeben und die haben ausgerechnet diesmal seine Zahlen gezogen? Großer Gott!“

„Nein!“ Constance winkte energisch ab. „Es ist viel schlimmer … ich meine, nein … im Gegenteil.“ Eindringlich sah sie Rob in die Augen. „Sie haben sechs Richtige.“

Rob starrte sie an wie eine Außerirdische.

„Das glaube ich jetzt nicht. Er ist doch manchmal ein wenig schusselig … ist das wirklich wahr?“

„Er hat die Ziehung mehrmals mit seinem Zettel verglichen … sechs Richtige.“ Die Farbe kehrte langsam in ihr Gesicht zurück.

„Das muss ich genau wissen, ich rufe ihn sofort an. Gib mir den Hörer!“

„Nichts da!“ Sie versteckte das Gerät hinter ihrem Rücken. „Die beiden sind total aufgewühlt. Mama ist froh, dass Pa endlich eingeschlafen ist und sie wollte auch gleich ins Bett.“

Constance nahm auf der Couch Platz.

„Du weißt doch, wie gerne sie uns finanziell unterstützen würden. Es ist der einzige Grund, warum sie noch spielen … sie sagen, dass sie das Geld selbst nicht mehr brauchen.“

„Super!“ Leoni, die alles mit angehört hatte, kam ins Wohnzimmer und baute sich vor ihren Eltern auf. „Also, als Erstes suchen wir eine neue Wohnung mit einem großen Zimmer nur für mich.“ Bestimmt sah sie die beiden an. „Und ich will ein Pony.“

„Wohl ein bisschen plemplem, was?“ Rob schob seine Tochter in den Gang. „Wir reden morgen weiter.“

„Das muss ich sofort Ben erzählen.“

„Sag mal“, begann Rob, „kennst du die Zahlen, die dein Vater spielt?“

Constance schüttelte den Kopf.

„Was meinst du, welchen Betrag man für sechs Richtige bekommt?“

„Keine Ahnung, aber wenn mehrere Spieler das Gleiche getippt haben,  ist er nicht sonderlich hoch. Kannst du dich erinnern … einmal gab es dermaßen viele Gewinner, dass am Ende jeder nur 100000 Euro bekam!“

„Na, besser als Nichts, oder.“

Constance zuckte mit den Schultern. „Was machen wir jetzt?“

Rob versuchte, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. „Gehen wir lieber schlafen, bevor wir durchdrehen. Morgen nach dem Frühstück rufen wir deine Eltern an. Dann sehen wir weiter.“

 

„Was ist denn hier los, das gab es ja noch nie!“ Ungläubig betrachtete Rob den gedeckten Frühstückstisch, an dem die beiden Kinder fertig angezogen saßen.

Constance gähnte und setzte sich auf ihren Stuhl. „Keine Ahnung, aber daran könnte ich mich gewöhnen.“

Nachdem auch Rob Platz genommen hatte, knuffte Ben seine Schwester in die Seite. „Nun sag es endlich!“

„Lass das!“ Sie musterte ihren Vater und ihre Mutter. „Wir haben uns gedacht, dass wir keine Zeit verlieren sollten, deshalb haben wir eine Liste geschrieben … eigentlich zwei Listen … eine für Ben, eine für mich.“

Die Mienen der Eltern bildeten Fragezeichen.

„Genau“, platzte es aus Ben heraus, „wo wir doch jetzt Millinäre sind.“

„Ach du meine Güte.“ Constance schlug eine Hand an die Stirn, Rob verdrehte die Augen.

„Wenn Leoni ein Pony kriegt“, fuhr Ben fort, „will ich einen Hund!“

Rob und Constance begannen schallend zu lachen. Diesmal waren es die Kinder, die ihre Eltern verständnislos ansahen.

Erst beim dritten Läuten bemerkten sie das Telefon. Constance sah auf die Anzeige, bedeutete den anderen, still zu sein, und nahm das Gespräch an.

„Guten Morgen, Mama.“

Ben und Leoni ballten die Fäuste und jubelten lautlos.

„Ja, ich höre … bleib ganz ruhig und erzähle einfach.“ Constance hörte gespannt zu. „Aha … verstehe … ja ja … und dann? Aber das ist … nein nein, wir haben uns keine Gedanken gemacht …  das macht doch nichts … kein Problem … alles gut … wir kommen heute am Nachmittag bei euch vorbei … bis später.“

Sie legte das Telefon auf den Tisch und sah Rob kopfschüttelnd an.

„Man möchte es nicht glauben!“

„Was?“ Die Frage kam zeitgleich aus drei Mündern.

„Mein Vater hat die Lottozahlen von gestern mit dem Zettel verglichen, den er selbst geschrieben hat. Er hatte aber total vergessen, dass er die gezogenen Zahlen bereits eine Stunde vorher aufgeschrieben hatte. Diese notierten Zahlen hat er später mit denen abgeglichen, die in den Nachrichten genannt wurden. Deshalb stimmten die überein. Das andere Blatt mit den Zahlen, die er diesmal auf seinem Tippschein angekreuzt hatte, hat er erst heute nach dem Aufstehen gefunden.“

„So ein Mist“, beendete Leoni das betretene Schweigen, „ich bekomme wieder kein eigenes Zimmer!“ Wütend stapfte sie aus der Küche, wobei sie ihr Smartphone auf dem Tisch liegen ließ. Ben schnappte es sich. „Wenigstens kann ich jetzt zocken.“

„Das ist mein Handy!“ Leoni stürmte auf ihren Bruder zu. Der sprang auf und lief davon. Unter lautem Geschrei verschwanden sie im Kinderzimmer.

Rob sah Constance an und nahm ihre Hand. „Stell dir vor, wir könnten uns alles leisten, was wir wollen. Das wäre doch total langweilig, oder?“

„Allerdings!“

Die beiden küssten sich.

„Komm, lass uns frühstücken.“

 

ENDE

 

Version 3

 

Anmerkung: Die Personen in dieser Geschichte sind frei erfunden.

Die Sache mit dem Tippschein hat sich vor einigen Jahren in meiner Familie genau so zugetragen.