Von Hanne Laudan

Ein Gummibärchen dafür, dass es nur Verspannungen sind. Harmlose Muskelschmerzen. Immerhin sitze ich den ganzen Tag am PC, da sind verkrampfte Muskeln in Hals und Schulter die natürliche Folge.  Jede Wette. Der letzte Arzt, den ich dazu befragt hatte, war derselben Meinung.

Eigentlich habe ich keine Zeit, zum Arzt zu gehen. Aber jetzt bin ich hier. Da soll dann wenigstens eine Belohnung rausspringen.

Ich wette oft und gern, allerdings nur mit mir. Dann weiß ich sicher, dass nicht gemogelt wird. Der Wetteinsatz ist immer der gleiche:  Gummibärchen. Diese ganz besonders leckeren, die auf der Zunge zergehen.

Wenn ich Recht habe, bekomme ich eins. Wenn nicht, spare ich es. Recht haben ist süß, nicht recht haben ein bisschen gesünder.

Gestern habe ich drei Bärchen gewonnen. Eins dafür, dass Tim seine Zuarbeit am Abend vorher nicht fertig bekommen hatte. Die Chancen standen etwa 50:50. Das zweite, weil ich vorher gesagt habe, dass der Chef wieder mich wegen der Organisation unserer Weihnachtsfeier anspricht. „Das war letztes Jahr so schön, Frau Laudan, das kann kein anderer übertreffen –„  Ich könnt‘ mir ja noch wen ins Boot holen. Klar. Die schreien alle Hurra.

Das dritte Bärchen gab es für die Ampel, an der man bei Rot Ewigkeiten ausharrt. Die Chancen stehen hier etwa 60 zu 40 für Rot. Es war Rot. Da ist das Bärchen dann ein Trost, damit ich nicht ins Lenkrad beiße.

Was rödelt der Kerl so lange mit dem Ultraschall. Die Liege ist verdammt unbequem und die Position so mit Arm über Kopf auch wenig komfortabel.

Meine Hausärztin hat ein Geräusch gehört. Das passiert. Oma hört Geräusche in der Wand und Frau Doktor eben im Stethoskop. Seitdem ich weiß, dass Überweisungen zum Facharzt nicht unlukrativ sind, gebe ich wenig auf solche Versuche der Panikmache. Das Geräusch hat sie letztes Jahr schon gehört, und was ist passiert? Nichts.

War mein Fehler, dass ich ihr die Schmerzen in der linken Schulter beim Joggen verraten habe. Fasziniert konnte ich daraufhin beobachten, wie sich professionelle Besorgnis auf das Lächeln legte.

„Nein, an Ihrer Stelle würde ich auf keinen Fall so anstrengenden Sport machen. Wenn Sie da jetzt schon Schmerzen haben …  Im Ernstfall kann Ihnen keiner helfen.“

Im Ernstfall stehen beim Citylauf an jeder Ecke mindestens 10 Sanitäter. Die hätten dann auch mal was zu tun. Aber das habe ich nicht laut gesagt.

Dafür liege ich jetzt hier und lasse mich mit Ultraschall-Gel überschütten. Der Kerl ist immer noch nicht fertig.  

Der findet nix. Klar, so eine teure Untersuchung muss gerechtfertigt werden. Allerdings kann dem das doch egal sein.

Mir aber nicht, ich hatte heute noch kein Gummibärchen, weil ich schon zweimal verloren habe. Liegt natürlich auch daran, dass ich vor einiger Zeit den Schwierigkeitsgrad erhöht habe und nur noch Wetten eingehe, wo das Ergebnis nicht von vornherein feststeht. Zum Beispiel, dass Katja heute nicht auf Arbeit erscheint, nachdem sie gestern hochdramatisch ihre Kopfschmerzen zelebriert hat. Da muss ich nicht wetten, dass weiß ich vorher. Und auch, wer dann mehr Arbeit hat.

Aber dass mein reizender Sohn nicht vergessen hat, auf dem Heimweg von der Schule beim Bäcker vorbei zu gehen und ein Brot mitzubringen, damit habe ich eher nicht gerechnet.  Auch nicht damit, dass Anita sich tatsächlich an den Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier beteiligen will. Macht sie doch gerne, hat sie gesagt. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Soweit ich weiß, ist Anita erklärter Weihnachtsmuffel. Aber eben eine von den blickigen Kollegen.

Der Arzt räuspert sich. Na endlich. Gleich habe ich das Gummibärchen des Tages in der Tasche. Mein Herz ist in Ordnung, ich treibe Sport und ernähre mich gesund, was soll da sein.

„Wenn Sie sich ein wenig zu mir drehen, können Sie auf den Monitor sehen“, sagt er. Da haben wir beide was davon, wenn ich da rein schaue wie ein Schwein ins Uhrwerk. Aber ich bin nett, verrenke mich noch ein Stück weiter.

„Sehen Sie hier, das ist die  Herzklappe, die sich am Eingang der Aorta befindet.“

Ich sehe einen zuckenden weißen Strich, der sich auf und ab bewegt. Aha. Sieht gut aus, so von hier.

„Von da kommt das Geräusch.“ Der Arzt spricht weiter. „Das ist typisch. Ihre Hausärztin hat das ganz richtig gehört.“

Wie bitte? Was soll das? Mit einem Mal höre ich mein Herz schlagen, ganz weit oben im Hals.

„Ganz auffällig ist das hier.“ Er schlingert mit dem Kursor über den Monitor. Ich sehe nichts, aber ich nicke. Was soll ich auch sagen.

„Das sind Ablagerungen. Ganz selten bei Leuten in Ihrem Alter und Ihrer Kondition, aber soweit ich das hier erkennen kann, liegt  eine Aortenklappenstenose vor, dritten Grades.“

Nee nich …

Kurz darauf sitze ich wieder vor dem Schreibtisch. Der Arzt redet und redet. Ich höre ihn, aber versteh nichts. Operation, mechanische Herzklappe, Zeitfenster, Folgen – zieht an mir vorbei, dringt nicht durch. Das will ich alles gar nicht wissen.

Ich kann das auch nicht glauben. Ich unterbreche ihn, will mich vergewissern

„Die Schmerzen in der Schulter kamen tatsächlich von dieser … Stenose?“

„Nein, die Schmerzen, so wie Sie sie beschrieben haben, kommen von Muskelverspannungen. Wenn man häufig am Computer sitzt, zum Beispiel.“

Heißt, ich habe die Wette gewonnen. Aber der Appetit auf Gummibärchen ist mir vergangen.