Von Torsten Krippner

Da der Berg sich spiegelt

Auf der kalten See

Ist es das Weiß der Blüten

Oder gleißt der Schnee?

 

Auf dem Plateau des Berges befand sich ein Findling. Dort sitzend bekam ich einen herrlichen Ausblick über die Gebirgsmassive, die von einem kleinen Bach durchbrochen wurden. Obwohl ich bereits viele Monate als Einsiedler hier nach meinem Austritt aus dem Kloster in Kandy lebte, war ich immer wieder fasziniert von dem Ausblick. Am Horizont war die Sonne bereits blutrot untergegangen. Der Himmel schien gespalten. Die eine Sonne rot, die andere schwarz. Dort wo es schwarz war, zogen Blitze in alle Richtungen. Zwischen den Wolken befand sich das Hochland. Es war um die Weihnachtszeit. In dieser Zeit regnet es noch einmal sehr stark im Hochland. Danach ist die Luft gereinigt und klar wie Kristall. Das ist die Zeit, wenn auf der anderen Seite die Teeplantagen in sattem Grün erblühen. Dann wandern die Pilger aus allen Teilen Sri Lankas zum gegenüberliegenden und höheren heiligen Berg, zum Sri Pada, hinauf. Auf der einen Seite war noch alles dunkel während auf der anderen Seite die Sonne die Erde verbrannte und nun in ihrem Untergang unendlich langsam eine blutrote Glut zurückließ.

Die schwarze Wand aus Regenwolken kam näher. Nebelschwaden tanzten wie ein Spuk um meine Taschenlampe, wurden so dicht, dass sich das Licht in eine milchige Flüssigkeit verwandelte. Dann begannen überall plötzlich Blitze zu zucken. Oben, unten und neben mir so dicht, als könne ich sie mit der Hand berühren. Aber sie waren nicht wirklich sichtbar. Der Nebel verhüllte ihre Form. Da war nur dieses Wetterleuchten, diese gespenstische Helligkeit, die überall im Nebel zitterte. Das dumpfe Grollen steigerte sich nun in gewaltiges Donnern.

Ich saß auf meinem Stein wie auf einem Thron und fühlte mich wie Richard III in einer Schlacht. Dieser Gedanke befreite mich von der Rolle des Zuschauers. In diesem Spiel war ich nicht nur ein Mitspieler, nein ich besaß sogar die Hauptrolle. Das Heer zog in die Schlacht gegen mich. Aber ich war nicht wehrlos. Die Nebelschwaden nahmen Gestalt an. Plötzlich umgab mich ein riesiges Heer mutiger Kämpfer. Meine Krone funkelte im Licht der zuckenden Blitze. Ich schrie mit donnernder Stimme: „Wer sah die Sonne heut`? Sie will also nicht scheinen, heut` an diesem Tag. Doch was geht das mehr mich an als Richmond. Der gleiche Himmel, der über mich sich wölbt, blickt auch herab auf ihn. Englands Ritter, mein mutiges Volk- ihr seid mit Land und schönen Frauen gesegnet. Dieses wollen sie euch stehlen und jene schänden. Treibt das Gesindel übers Meer zurück. Diese Hungerleider, die des Lebens satt.“

Grelles Licht und Hitze durchfluteten mich. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Kopf am Boden in der Nähe Steins. Hatte mich einer dieser Blitze gestreift? Was immer es war, ich werde es nie erfahren.

Ich erhob mich schwerfällig, schleifte mich zur Lampe und hielt sie mir dicht vor die Augen. Ja, alles war in Ordnung. Ich spürte keine Schmerzen, konnte hören, sehen, riechen, schmecken, tasten. Alle meine Sinne funktionierten. Außerdem war da eine Leichtigkeit.

Inzwischen hatten die Blitze und das Donnern aufgehört. Der Mond schien zwischen den Wolken hindurch. Die Nacht war weit fortgeschritten. Aber in dieser von Winden gereinigten kristallklaren Luft wollte keine Müdigkeit aufkommen.

Wie in Trance schwebte ich zu meiner Unterkunft. Tief in einer Felsspalte hatte ich mir eine kleine Ecke als Schlafspalte hergerichtet. Zu diesem Zwecke hatte ich einige Bäume gefällt, sie auf die richtige Länge zugeschnitten und dann im Felsspalt eingeklemmt. Die Ritzen zwischen den Stämmen waren mit Lehm verschmiert. So besaß ich ein vor Wind und Wetter geschütztes Lager. Als Öffnung ließ ich ein kleines Loch, das ich von innen mit einer Tür aus Reisig- Geflecht verschließen konnte. Der Raum war gerade groß genug, um darin liegen zu können. Als Unterlage hatte ich eine Strohmatte über dem nackten Felsen gelegt. Als Kopfkissen diente mir ein Sack, den ich mit Blüten und Blättern gefüllt hatte. Und da es so weit oben kalt ist, besaß ich noch eine zweite Wolldecke.

Obwohl ich wusste, dass ich jetzt nicht schlafen würde, zog ich mich in diese Stille zurück, um die Welt im Liegen zu erleben. Ich hatte mich kaum niedergelegt, als mich eine Mischung aus Traum und Wirklichkeit in ihren Bann zog.

Von denen durch Nässe schwer gewordenen Blätter und Äste fielen unzählige Tropfen auf Stein, Gras und Erde. Dadurch entstand eine sanft- rhythmische Melodie, die mich wie eine zärtliche Umarmung in sich aufnahm. Diese schwere triefende Natur war so sinnlich, dass sie mir das Blut in den Unterleib trieb. Ich schlug die Decke zurück, damit sich die Erektion frei und ungehindert entfalten konnte. Diese über alles gefürchteten Gefühle, die so manchen Einsiedler in den Wahnsinn trieben, offenbarten sich dieser Nacht als schuldlos und ohne Absicht. Als Ausdruck einer Kraft und Energie, die in der bloßen Tatsache ihrer Existenz Genüge fand und nichts weiterwollte, als angenommen zu sein, um ihren eigenen von der Natur vorbestimmten Weg zu gehen. Aber worin bestand der eigentlich? War es nicht eventuell ein Vorurteil, diesen Gefühlen die Suche nach Orgasmus zu unterstellen? Ausgerechnet jenes, was sie zum Verlöschen bringt, was ihren augenblicklichen Tod bedeutet, sollte ihr Ziel sein? Ich überließ dem Regenwald seinem Gesang. Aufmerksam und mit Hingebung überließ ich mich der Führung dieser Energie, die sich langsam im ganzen Körper ausbreitete, mit zunehmender Leuchtkraft, die nur mit geschlossenen Augen sichtbar war. Innerhalb weniger Minuten war mein gesamter Körper von unbeschreiblichem Wohlgefühl erfüllt.

Aus meinem Atem stiegen schneetreibende Wesen auf. Ihre fraulichen Körper wiegten sich direkt vor mir. Indem ich diese Vorstellung weder verneinte noch bejahte, gab ich ihr die Chance, ihren eigenen Weg zu gehe und lauschte dem Flüstern:

Die weißen Körper fließen

Stürzt zur Erde

Schwebt zu Wolken

Einander sich zu spiegeln

 

Die weißen Körper fließen

Zehen der Wellen

Steigen heran

Sich tauchend zu ergießen

 

Die weißen Körper schmiegen

Drängen nicht auf

Grenzen nicht ab

Ohne Anfang, kein Versiegen

 

Unendlich langsam schwebten sie auseinander, verwandelten sich ihre Körper. Aber auch meine Perspektive veränderte sich. Was vorher gegenüberstand, sah ich jetzt aus der Vogelperspektive tief unter mir. Die transparenten Körper nahmen nun eine andere Form an. Vergleichbar mit symmetrischen Scheiben, die sich übereinander schoben und auftürmten, aber immer noch miteinander fest verbunden waren, obwohl ihre Einzelteile, aus denen sie bestanden, sichtbar waren. Nun lösten sich die Einzelteile voneinander, schwebten frei im Raum wie Schneeflocken, deren weiße Farbe sich in Licht verwandelte. Mit jeder Verwandlung ging eine Veränderung des Gefühls einher. Sexuelle Gefühle waren zu diesen Eindrücken, die ich jetzt empfand, wie rauer Bast im Vergleich zu Seide. Aber auch das nahm ich lediglich zur Kenntnis, ohne es zu bejahen oder zu verneinen. So nahm die Verfeinerung ihren Lauf. Die leuchtenden Schneeflocken verfeinerten sich zu symmetrischen Formen, die sich schließlich zu einem einzigen leuchtendes Mandala vereinigten.

Eine Ahnung von Leerheit, welche die substanzhafte Starre auflöst,  breitete sich in mir aus. In diesem Moment wurde mir vorstellbar, sogar zur festen Gewissheit, dass das Leben mit dem Tod nicht endet. Der Tod ist wie eine Tür zur Freiheit, zu einer grenzenlosen Weite. Diese Tür stand nun offen und nichts schien mir natürlicher, als mich dieser Dynamik zu überlassen, die zugleich meine Freiheit und meinen Tod bedeuten würde. Mein Körper wurde ein Fahrzeug, dessen Kontrolle mir entglitten war. Und doch spürte ich in diesem Augenblick, wie mein Selbstbewusstsein einer weiteren Verfeinerung im Wege stand. Ohne jeden Zweifel stand ich jetzt an einer Schwelle, über die ich mich selbst nicht hinüberbewegen konnte. Mir wurde bewusst, dass dieser Verfeinerungsprozess eine Eigendynamik besaß, die auf mich verzichten konnte. Ja, der ich sogar selbst im Wege stand. Als mir bewusst wurde, dass ich die Kontrolle verlor, überkam mich plötzlich panische Angst, obwohl keine Gefahr bestand. Alles war zum ersten Mal in vollkommener Ordnung. Alles funktionierte aus sich heraus und ohne Kontrolle.

Jedoch:

Ich konnte mir selbst nicht eingestehen, überflüssig zu sein.

Mit aller Macht richtete sich mein Oberkörper ruckartig auf. Meine Hand erhob sich, die leuchtende Erscheinung zu greifen- und fing nur Kälte. Diese jähe Unterbrechung war so gewaltig, dass ich einen furchtbaren Schmerz in meinem Kopf verspürte. Aber ich war sofort hellwach. Ich war nun wieder Herr meiner selbst und in vollem Besitz meiner Sinne. Ich betrachtete mich und meine Umgebung. Ich lauschte den Geräuschen der erwachenden Natur. Sog den Duft der Blumen ein, die nach dem nächtlichen Regen erblüht waren. Das alles war jetzt wieder ich. Was noch kurz zuvor nur Wahrnehmung, Gefühl, Bewusstsein und Vorstellungen waren, erschien nun wieder durch ein Selbstbewusstsein festgelegt und mit Ideen, Namen und Werten beschwert. Jetzt glich ich einer Maus, die sich nach dem Anblick der unendlichen Weite der Gebirgszüge, eilends in ihr Loch verkroch.

Vor meinem Felsspalt nahm der Regenwald in der wärmenden Sonne ein Dampfbad. Diese Waschküche verstärkte noch meine aufkommenden finsteren Gedanken. Langsam versank ich in eine tiefe Niedergeschlagenheit. Ich hatte eine vielleicht einmalige Chance verpasst. Die Ereignisse der Nacht hatten mich zurückgelassen, mich ausgespuckt wie Abfall, wie eine Beleidigung dieser geweihten Nacht der Zeichen und Wunder. In meiner Einsiedelei so hoch in den Wolken inmitten der unberührten Natur hatte ich eben noch den Himmel gespürt und befand mich jetzt nur noch in einer nassen Felsspalte. Umgeben vom Schatten der einsamen Berge, an denen jedes gesprochene Wort in unzählige Echos zersplitterte. Die mich vervielfältigten, um mich dann wie zum Hohn in alle Winde zu zerstreuen.