Von Florian Ehrhardt

I – Julia Neugebauer

„Hast du gehört? Die Winters wollen reich werden!“
Ich rolle die Augen. „Wer will das nicht?“
„Klar will das jeder, aber die beiden haben echt ‘ne Chance!“
Eigentlich interessiere ich mich nicht dafür, wie reich die Winters werden könnten. Eigentlich wollte ich nur einkaufen gehen. Trotzdem bleibe ich höflich. „Was für eine Chance?“
„Naja, mit einer Wette!“
„Was für eine Wette?!“ Eigentlich habe ich mich ja gar nicht dafür interessiert, aber jetzt hat Helga meine Neugier doch geweckt.
„Eine Fußballwette.“ Jetzt rollt Helga, meine Nachbarin, die Augen. „Die haben vor 2 Monaten 200€ gesetzt, dass Dortmund die Bayern heute Abend mit mindestens 4 Toren Vorsprung weghaut. Wenn das passiert, bekommen sie 20.000 raus!“
„Okay Helga, schön und gut, aber selbst jemand wie ich, der keine Ahnung von Fußball hat, weiß, dass der FC Bayern nicht mit vier Toren Unterschied verliert.“
„Aber die Wahrscheinlichkeit besteht!“
„Es ist wahrscheinlicher, dass die beiden beim Sex vom Blitz getroffen werden.“, erwidere ich trocken.
Helga wird rot. „ Aber Julia, die beiden sind fast 70!“
„Genau so meine ich das.“ Ich hasse es, Witze erklären zu müssen. „Dass die alten Säcke noch Sex haben und dabei auch noch vom Blitz getroffen werden, ist wahrscheinlicher als ein 4-0.“
„Sag das nicht! Jochen sagt, dass wir diesmal echt eine Chance haben.“
„Wir? Helga! Wir wohnen in Bochum! Wir sind blau-weiß, nicht schwarz-gelb!“
Jochen ist schwarz-gelb! Und außerdem: Ich dachte, du hast keine Ahnung von Fußball?“
„Ich nicht. Aber Sebastian!“
„Der Neue im Haus? Aus dem zweiten Stock?“
„Hey, er wohnt hier bald ein halbes Jahr!“
Helga hat gemerkt, dass ich rot geworden bin. „Mädchen, ich bin 20 Jahre älter als du, aber einen Rat möcht‘ ich dir geben: Wenn du mit diesem Sebastian Spaß haben willst, dann kannst du den haben. Aber mach bloß nicht den gleichen Fehler wie ich! Überleg es dir zweimal, bevor du dich bindest. Ich wünschte, jemand hätte mir diesen Rat gegeben. Ich hab’s nämlich andersrum gemacht. Zweimal geheiratet und dann überlegt.“
Wenn Helga einmal redet, hört sie einfach nicht auf. Ich versuche, das Gespräch elegant zu beenden. „Weißt du Helga, auch mit 25 ist man nicht so auf Sex fixiert, wie du vielleicht denkst. Sebastian könnte echt der Richtige sein. Und deshalb muss ich jetzt auch los. Ich brauch ‘nen Wein für unser Date heute Abend.“ Mit diesen Worten gehe ich an ihr vorbei.
„Wenn du bei ihm Punkten willst, musst du dir eher die Zähne putzen! Dein Mund stinkt nach Kater!“
„Danke!“, gebe ich zerknirscht von mir, während ich das Mehrfamilienhaus in der Goethestraße 4 verlasse.“

 

II – Sebastian Weller

Mein erstes Klopfen bleibt unbeantwortet. „Jochen, alles okay bei euch?“
Schritte.
„Jochen?“
Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ein verschwitzter Jochen öffnet mit hochrotem Kopf die Tür. Er wirkt angespannt, aber als er mich erkennt, entspannen sich seine Gesichtszüge ein wenig. „Ach, Sebastian, du bist es. Komm doch rein. Ich weiß, dass du wegen des Lärms kommst, aber vielleicht hast du zu der Sache ja auch eine Meinung. Komm rein.“
Ich verstehe nur Bahnhof. „Rein?“
„Ja, rein!“
„Jochen, ich hatte einen beschissenen Montagmorgen und will einen Mittagsschlaf machen. Was denkst du, warum ich montags nur halbtags arbeite? Verschon mich mit deinem Ehekrach.“
„Du wirst es verstehen, wenn du reinkommst!“
„Wenn du mich danach wieder schlafen lässt.“
„Klar lass ich dich …“ – ich betrete die Wohnung von Sabine und Jochen Müller –

„ …aber nach der Geschichte kannst du nicht mehr schlafen.“
Sabine stürmt auf mich zu. „Glaub ihm seine Schauergeschichten nicht!“
„Schauergeschichten?“
„Sebastian.“ Jochen schaut mir tief in die Augen. „Die Winter hat ihren Berthold umgebracht.“
„Was?!“
„Jochen, lass die Scheiße!“, brüllt Sabine ihren Mann an, um dann zu mir zu sagen: „Aber ja, Berthold Winter ist tot!“
„Bitte was?“ War der nicht voll gesund?“
„Ja“, erwidert Jochen, „aber dann kam die Wette!“
Ich fühle, wie es in meinem Hirn arbeitet. Dann komme ich darauf. „Die 20.000-Euro-Wette? Julia hat mir davon…“ Wissen Jochen und Sabine eigentlich von Julia?
Jochen kann Gedanken lesen. „Also war das Julia Neugebauer aus dem Ersten, die wir da in der Nacht zum Sonntag hören durften?“
„War es so laut?“
„Die Wände haben gewackelt. Also darfst du dich gar nicht beschweren, wenn es bei uns mal lauter wird. Bei uns ist es wenigstens 3 Uhr mittags und nicht nachts.“
„Jetzt komm zurück zum Thema! Haben die die Wette etwa gewonnen?“
„Ja, und dann hat sie ihn umgebracht!“
„Jochen! Hat sie nicht!“
„Doch, Sabine! Niemand stolpert mit der Brust voraus in einen Korkenzieher!“
„Könnt ihr mir das nochmal zusammenfassen?“
„Die Winters haben 20.000 € gewonnen und dann hat Elisabeth Berthold umgebracht. Mit einem Korkenzieher!“
„Die Winters haben 20.000€ gewonnen, am Sonntagmorgen war Berthold tot. Das…“, sie wirft Jochen einen vorwurfsvollen Blick zu, „…sind die Fakten. Der Korkenzieher ist ein Gerücht.“

„Ihr spinnt doch. Beide.“
„Warum“ Die Antwort kommt im Chor.
„Du, Jochen, weil du eine Rentnerin für eine kaltblütige Mörderin hältst, und du, Sabine, weil du deinen Mann so laut anbrüllst, dass es das ganze Haus hört.“
Beide blicken beschämt zu Boden.
„Ach ja: Und wenn die Winter wirklich so kaltblütig ist, seid ihr als nächstes dran. Die hat euch bestimmt gehört bei dieser Lautstärke!“
„Die ist nicht da!“ Sabine hält sich sofort nach ihrem Einwand die Hand vor den Mund. „Ups.“
„Also beobachtest du sie auch? Ich wusste es! Ich habe recht!“ Jochen grinst triumphal.
„Ich…“
„Wisst ihr was? Ihr seid kindisch! Ich mache jetzt meinen Mittagsschlaf. Also streitet leise weiter!“
Mit diesen Worten verlasse ich die Wohnung. In meinen Mittagsschlaf-Träumen jagt mich eine Rentnerin.

 

III – Alina Pfeffer

„Das ist die erste außerordentliche Hausversammlung seit dem Dachstuhlbrand 1995.“
Meine Gedanken schweifen ab. 1995? Damals wurde ich eingeschult. 
„Heute ist die Lage ernster.“
Ein Raunen geht durch den kleinen Raum.
Herbert fährt fort. Sofort wird es wieder still, denn mit seinen 85 Jahren hat er nicht mehr die lauteste Stimme. „Wir können annehmen, dass Elisabeth Winter ihren Mann umgebracht hat, um die 20.000€ Wettgewinn für sich alleine zu haben. Die Polizei hat aufgehört zu ermitteln, schließlich können sie Elisabeth nichts nachweisen, weil es nie eine Obduktion von Berthold gab, die Hexe hat ihn ja sofort einäschern lassen.“

„Gerissene alte Mörderhexe!“, zischt es aus einer Ecke.
„Jetzt reicht es aber! Herbert! Was du Elisa da unterstellst, ist völliger Humbug! Sie haben sich geliebt!“ Den letzten Satz brüllt Brigitte. Meine Nachbarin ist verrückt geworden. Aber damit ist sie in diesem Haus leider nicht alleine.
„20.000 Euro sind viel Geld“, wirft Julia Neugebauer ein, die auf dem Schoß von Sebastian Weller sitzt. Ich hasse sie dafür. Dabei war es doch ich, der Sebastian die Wohnung hier im Haus vermittelt hat.
„Wisst ihr was? Ich geh hoch und sag ihr, dass ihr euch gegen sie verschworen habt! Ich ertrage es nicht mehr!“ 
„Spinnst du?! Lass den Scheiß, Brigitte!“ 
Alle im Raum sehen verstört zwischen Brigitte und Herbert hin und her. Keiner hätte dem Alten so eine Ausdrucksweise zugetraut. 
Mitten in das gebannte Schweigen hinein springt Brigitte auf und rennt – auf Socken – aus der Erdgeschosswohnung vom alten Herbert. Ihre Schritte sind auch ohne Schuhe im Treppenhaus zu hören. 
Kurz verweilt jeder in Schockstarre, dann bricht das Chaos aus. Jemand brüllt „Hinterher!“ und wie auf Befehl springen alle auf. Ich bin am schnellsten und springe quasi sofort aus der Tür. Na toll, jetzt führe ich einen Mob an. In Windeseile geht es drei Stockwerke nach oben. Ich komme gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Elisabeth die Tür öffnet. „Elisa, die denken, du hättest den Berti umgebracht und …“ 
Elisabeth Winter will die Tür sofort zuschlagen. Aber ich reagiere geistesgegenwärtig. Mein Fuß schnellt hervor und schiebt sich zwischen Tür und Rahmen. Erst dann fällt mir ein, dass ich auch keine Schuhe anhabe, aber da ist es schon zu spät. Mein Fuß knackt. Sterne tanzen vor meinen Augen. Ich kippe nach rechts weg, über meinem Kopf fliegt etwas hinweg, das aussieht wie ein Gehstock. Dann wird die Welt schwarz.



IV – Elisabeth Winter

Es ist dunkel, als ich wieder aufwache. Der Gehstock von diesem spinnenden Opa hat mich voll an der Schläfe getroffen, als ich mich in Todesangst mit der Schulter voraus gegen die Tür geworfen habe, um sie zu schließen. Mein Schädel brummt. Langsam rappele ich mich auf. Ein Blick durch den Türspion verrät mir, dass die Verrückten weg sind. Nicht ohne Freude nehme ich auch die Blutstropfen von der Schlampe wahr, deren Fuß ich auf dem Gewissen habe. Selber schuld. Zum Glück hält ihr Fuß nicht viel aus, sonst hätte dieser wütende Mob mich zerfleischt.

Ich habe Berti nicht umgebracht. Wir haben doch nur ordentlich gefeiert nach diesem Jahrhundertsieg. 6-1! Und so viel Geld!

„Und dann?“ Da ist sie wieder, die Stimme in meinem Kopf. Der Gehstock muss sie aufgeweckt haben. Mein Hirn entwickelt ein gefährliches Eigenleben.

„Dann haben wir jeder eine Weinflasche geleert. Von dem Guten.“ Ich höre mich selbst murmeln.

„Und dann?“

„Was dann?“

„Vom Feiern stirbt man nicht.“ Die Stimme ist eiskalt.

„Er stand auf dem Stuhl…so selbstgefällig…“, sage ich mit zittriger Stimme, „…aber ich habe ihn nicht geschubst!“

„Sicher?“

Ich schweige mich selbst an.

„Sicher?“

„Nein.“

„Du weißt, was zu tun ist!“, zischt die Stimme.

Dann ist die Stimme weg. Aber ihre Worte hallen in der leeren Dachgeschosswohnung nach.

Die Schlaftabletten liegen oben auf dem Küchenschrank. Reichen zehn? Oder doch die ganze Packung? Mit oder ohne Rotwein?

Was dann passiert, läuft als Film vor meinen Augen ab, ich bin der Hauptdarsteller und kann trotzdem nicht entscheiden, wo es langgeht. Ich bin zu einer Marionette meiner Schuldgefühle geworden.

Ich kritzele ein knappes „Berti, ich komme zu dir!“ auf einen Notizblock und sehe aus dem Fenster.

Nur der Vollmond wird mir zusehen.