Von Heike Weidlich

Ich musste eine Entscheidung treffen. Seit einer geschlagenen Stunde saß ich im Auto und langsam drohten mir die angewinkelten Beine abzusterben. Sowohl meine Finger als auch, wie ich mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte , meine Nase, waren bereits blau angelaufen. Clownesk hätte meine alte Kunstlehrerin dazu gesagt.

Könnte schlimmer sein, alter Junge, redete ich mir selber gut zu. Immerhin hat’s noch zwei Grad über Null. Im letzten Dezember hatten wir um diese Zeit bereits strengen Frost.

Ich legte die Hand auf den Türgriff, ließ sie jedoch wieder in den Schoß sinken. Nur noch kurz, ganz kurz, eine letzte Galgenfrist sozusagen.

Ich schloss die Augen, atmete tief durch um mich zu beruhigen, mir selber Mut zuzusprechen, doch sofort waren sie wieder da. Die Bilder:

 

„Herr Meister, bitte kommen Sie nach Feierabend in mein Büro.“ Was wollte der Alte schon wieder von mir. Heute Abend war ein Pokalspiel  und ich hatte überhaupt keine Lust zu spät in meine Stammkneipe zu kommen. 

„Herr Meister, so geht’s nicht weiter. Diesen Monat sind Sie bereits das dritte Mal zu spät gekommen. Außerdem hat sich ein Kunde beschwert. Er hatte den Eindruck, dass Sie eine Fahne hatten.“

„So ein Quatsch. Ich kann das erklären, der …“

„Ich will jetzt gar nicht mit Ihnen rumdiskutieren. Ich mahne Sie hiermit ab. Sollte es zu weiteren Beschwerden kommen, sitzt beim nächsten Mal hier die Personalabteilung und der Betriebsrat mit dabei. Ich hoffe wir haben uns verstanden.“

Aufgeblasener Gockel!

 

Ich rieb mir über die Augen. Vier Wochen später war „das nächste Mal“ und die letzte Warnung gewesen. Alle hatten sie mich angestarrt. Die Personaltante hatte den Eindruck vermittelt, dass sie mich gar nicht schnell genug loswerden könne. Der Betriebsratsvertreter machte auf best friend, und tat übertrieben verständnisvoll, was womöglich noch schlimmer war. Für was hatte der denn Verständnis? Dass man ab und zu mal einen über den Durst trank? Machte doch jeder, oder wie oder was? Außer diesen verkniffenen Spaßbremsbären vielleicht. Meilenweit überlegen war ich mir vorgekommen. Die steckte ich alle noch mit drei Promille in die Tasche!

 

Ich machte einen erneuten Anlauf mich aus dem Auto zu hieven. Doch wieder ließ ich mich in den Sitz zurücksinken. Mir war, als sei ich bleischwer geworden. Wie festgeklebt fühlte ich mich. Wahrscheinlich kam ich nie wieder aus diesem Auto raus.

Und schon waren die Bilder wieder da: 

 

Anne. Wunderschön in ihrem neuen Kleid. Strahlend, voller Vorfreude. „Schnell jetzt Michi, sonst kommen wir noch zu spät. Wir waren schon so lange nicht mehr im Theater.“ Sie drehte sich im Kreis, dass ihr Rock nur so flog.

„Theater?“ Ich hatte mich bereits auf einen gemütlichen Abend vor der Glotze mit dem einen oder anderen Bier eingestellt. Gestern war’s mit Herbert, sagen wir mal, getränketechnisch etwas aus dem Ruder gelaufen und mir war noch immer etwas schwummrig in der Birne. Da musste es ja wohl erlaubt sein, sich auch mal ein bisschen zu entspannen. 

Anne blieb abrupt stehen: „Sag jetzt nicht, du hast das vergessen. Seit Wochen reden wir doch davon. Ich hab dir bereits dein neues Hemd und deinen Anzug rausgelegt. Komm, spring schnell unter die Dusche. Das schaffst du noch.“

„Och ne, lass mal. Ich bin so kaputt. Mega viel los grade in der Firma. Kannst du nicht Bine mitnehmen?“

Anne sah mich mit einem Ausdruck in den Augen an, den werd ich nie vergessen. Die Enttäuschung in Person. Sie drehte sich wortlos um, schnappte ihren Mantel und ging. Aber, hei, so schlimm war’s ja wohl auch wieder nicht. Soll sich mal nicht so anstellen, hatte ich damals gedacht.

 

Mit einem Ruck öffnete ich die Fahrertür und stieg aus. Jetzt oder nie. Auf jetzt Michi. Du kneifst nicht, du ziehst das jetzt durch! Ich drückte auf den Knopf, hörte wie die Türschlösser einrasteten. Trotzdem ging ich im Schneckentempo nochmal ums gesamte Auto, prüfte jede Türe. Auch den Kofferraum. Und dann noch eine Runde. Nur noch ein bisschen Zeit gewinnen.

Langsam, Schritt für Schritt, mit zentnerschweren Beinen, schleppte ich mich dem Eingang entgegen. Als ich jemanden kommen sah, ging ich schnell um die Ecke und wartete. Ich wollte jetzt nicht angequatscht werden. Musste nachdenken. Vielleicht doch wieder umdrehen und nächste Woche wieder kommen. So eilig war’s nun auch wieder nicht. Oder? Kurz lehnte ich mich an die Wand. Und sogleich waren sie wieder da. Die Bilder von gestern Abend:

 

Heute würde ich pünktlich sein. Ich hatte es mir ehrlich fest vorgenommen. Ich würde Ole überraschen und mit ihm auf den Weihnachtsmarkt gehen. Nachdem ich es vorgestern versemmelt hatte. Als ich aus dem Auto stieg, hörte ich ihn im Garten. Offenbar war Nick, sein bester Kumpel da. Wahrscheinlich kickten sie noch ein bisschen vor dem Abendessen. Der konnte dann ja auch mit auf den Weihnachtsmarkt kommen.

Langsam schlich ich mich an. Die würden Augen machen, dass ich schon da war. Bevor ich um die Hecke bog, hörte ich, wie Ole laut wurde: „Nee, ich hab’s ihm nicht gesagt.“

„Aber du hast doch die Hauptrolle beim Krippenspiel. Du bist doch der Josef. Mensch, da will doch dein Vater bestimmt dabei sein.“

Kurz war alles ruhig, ich duckte mich hinter die Hecke. Lauschte. Und plötzlich brach es aus Ole heraus und ich hörte ihn schreien: „Ich soll’s ihm also sagen! Und dann? Im besten Fall kommt ihm etwas „Ultra-Wichtiges“ dazwischen.“

Kurze Pause. Und dann hörte ich Ole schluchzen: „Aber vor was ich wirklich Angst hab, ist dass er tatsächlich kommt. Die Aufführung ist Freitagabend. Da kommt er dann direkt aus seiner Stammkneipe. Der meint immer, wir merken das nicht, dass er nicht aus dem Büro kommt. Dabei riecht man ihn schon drei Meter gegen den Wind. Manchmal schafft er’s kaum noch grade zu gehen. Und dann macht er immer so auf bester Kumpel, macht so blöde Witze.“ Ole weinte jetzt richtig. „Ich will einfach nicht, dass die anderen meinen Papa so sehen.“

Durch ein Loch in der Hecke sah ich, wie Nick meinem Jungen unbeholfen die Schulter tätschelte. Langsam ließ ich meine Hände, mit denen ich die Zweige der Hecke auseinandergehalten hatte sinken und trat den Rückzug an. 

 

Wie mit einem Hammer vor den Kopf geschlagen, war ich über eine Stunde durch die Kälte gelaufen. Ich hatte immer gedacht, ich könnte alle locker täuschen. Hatte allen ständig eine Story vom Pferd erzählt. Wenn‘s am Abend davor mal wieder zu heftig geworden war: Krankheit beim Chef vorgetäuscht. Wenn ich noch ein paar Runden in der Kneipe mitnehmen wollte: Dringende Überstunden bei Anne vorgejammert. Und Ole? Der kapierte eh noch nichts. War ja noch klein. War froh, wenn der Papa da war. 

Als die Firma mich zu einer Suchtberatung zwang, war ich erst sauer. Dann hab ich in mich hineingelacht, getan, als spiele ich ihr blödes Spiel mit und ihnen insgeheim den Mittelfinger gezeigt. Ich und abhängig, lächerlich! Die können sagen was sie wollen: Ich mach mein Ding! Wär ja gelacht, wenn ich mir mein Leben von diesen Hanswursten bestimmen ließe.

 

Aber seit ich Ole, heimlich wie ein Dieb, durch die Hecke gesehen hatte, war alles – ach, ich weiß auch nicht. Ich schämte mich so unendlich. Am liebsten wäre es mir gewesen,  ein Loch hätte sich im Boden aufgetan und ich wäre darin verschwunden. Auf Nimmerwiedersehen. Dann hätte Ole nicht mehr wegen mir weinen müssen. Oder vielleicht doch? Hätte er mich vermisst? Vielleicht seinen Papa, wie er früher gewesen war.

Heute Morgen hatte ich meinen Schreibtisch durchgewühlt. Irgendwo musste sie doch sein, ich war mir ganz sicher. Die Karte, die mir die Dame bei  der Beratungsstelle mitgegeben hatte.

Und jetzt stand ich hier in der Kälte und traute mich nicht hinein. „Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann eben tun muss.“ Wo kam jetzt plötzlich die Stimme meines schon längst verstorbenen Vaters her. Der sollte sich gefälligst raushalten! War auch nicht immer das Gelbe vom Ei gewesen, was der sich so geleistet hatte. Trotzdem war auf ihn immer Verlass, mahnte eine weitere Stimme in meinem Kopf. Er hat dich nie hängen lassen. Und außerdem geht’s hier nicht um ihn, sondern um dich. Reiß dich jetzt endlich zusammen. 

Ich straffte die Schultern, hob den Kopf und  dann traf ich die längst fällige Entscheidung und öffnete leise die Türe. 

Circa 20 Menschen saßen im Kreis. Ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum stand in einer Ecke und es duftete nach Tee, Punsch und Lebkuchen.  Mir brach der Schweiß aus und am liebsten wäre ich wieder umgedreht. Doch da erhob sich einer der Anwesenden, wahrscheinlich der Gruppenleiter,  kam mir entgegen und gab mir die Hand: „Schön, dass du gekommen bist. Du kannst dich gleich hier neben mich setzen“ und deutete auf einen freien Stuhl. 

Dann begrüßte er die Anwesenden und bat sie, sich kurz vorzustellen. „Hallo, ich bin Miriam Kübler, die meisten von euch kennen mich bereits“ machte eine elegante Dame in einem dunklen Kostüm den Anfang. „Ich bin seit fünf Jahren trocken, wobei mir die Gruppe hier sehr geholfen hat und auch weiterhin hilft.“

„Ich heiße Frank und ohne die Gruppe hier, gäb’s mich wahrscheinlich nicht mehr.“ 

Nacheinander ergriffen diese so völlig unterschiedlichen Menschen das Wort. Die einen gewährten größere Einblicke in ihr Leben, anderen hielten sich kurz. Ergriffen und gleichzeitig ruhiger werdend hörte ich zu bis die Reihe an mir war.

„Möchtest du dich kurz vorstellen?“

Ich nickte entschlossen: „Ich heiße Michael Meister, und ich“ ich schluckte, gab mir dann aber einen Ruck: „Und ich bin Alkoholiker.“

 

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