Herbert Glaser
Die Augen auf halbmast und lediglich mit einer abgewetzten braunen Lederjeans bekleidet, stand Jörg mit Waschzeug in der Hand vor der Badezimmertür.
Durch eine glückliche Fügung hatte er innerhalb eines Monats drei seiner Gemälde verkauft und gönnte sich deshalb ausnahmsweise eine Unterkunft abseits der Jugendherbergen, die er sonst in Anspruch nahm. Das Kriterium „Jugend“ erfüllte er allerdings schon lange nicht mehr.
Hier hatte er immerhin ein Zimmer für sich allein – welch Luxus – das Bad musste er sich allerdings mit einem benachbarten Hotelgast teilen.
Er war einiges gewohnt. Schlafräume mit dutzenden Hochbetten, Etagenduschen, ein WC für 10 Parteien, einmal sogar ein altes Toilettenhäuschen im Hinterhof. Alles kein Problem, Hauptsache es gab die Möglichkeit, seine Bilder auszustellen, und sei es auf einem Straßenmarkt.
Trotzdem zögerte Jörg, das Badezimmer zu betreten. Wenn nun der andere Hotelgast eine Frau war und vielleicht nackt.
Er hatte es zwar nicht eilig, aber irgendwann wollte er dann doch …
Er klopfte und legte ein Ohr an die Tür.
Keine Reaktion. Es war still im Raum. Er traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür. Das Badezimmer war leer.
Mit wenigen Schritten trat er in die Mitte und drehte sich langsam einmal um seine eigene Achse. Handtuchhalter aus Kunststoff, hölzerne Ablagen mit abgeblätterter Oberfläche, matte Spiegel, Steckdosen, die gerade noch den Sicherheitsvorschriften genügten, alles flog an ihm vorbei. Und zerkratzte Waschbecken, wie alles andere in diesem Raum in doppelter Ausfertigung vorhanden.
Durch ein Fenster zwischen den beiden Becken warf die Morgensonne helle Lichtinseln an die gegenüberliegende vergilbte Wand.
Jörg betrachtete den wolkenlosen, hellblauen Himmel, der wie ein verwaschenes Bettlaken über der Kleinstadt hing und von dem Treppengitter der Feuerleiter in kleine Quadrate zerschnitten wurde.
Mit einem Lächeln sah er auf den Hotelparkplatz hinunter und betrachtete den alten, klapprigen VW-Bus, indem er seine Kunstwerke transportierte.
Jörg stellte sich vor `sein´ Waschbecken, hing den Riemen mit dem Abziehleder an einen Haken, zog ihn straff und begann gemächlich, die Klinge abzuledern.
Sein Gesicht war ein Mosaik aus Furchen und Schatten, seine Haut wettergegerbt, das beneidenswert dichte Haar schwarz wie Kohlenstaub, mit Spuren von Asche an den Schläfen.
Die geschärfte Klinge legte er auf die Ablage unter dem Spiegel und verstaute den Riemen wieder in der Ledertasche, die ebenso abgewetzt war wie seine Hose.
Er fingerte Streichhölzer heraus, zündete einen Joint an und inhalierte mit geschlossenen Augen.
Das singende Wasser in den Rohren zauberte Musik an sein inneres Ohr.
Er führte den glühenden Stummel für einen letzten Zug an den Mund, als sich mit einem donnerartigen Geräusch die Tür zur Hölle auftat.
Die lieblichen Klänge in Jörgs Kopf verstummten augenblicklich. Mit nebligem Blick musterte er einen kleinen Mann jenseits der Lebensmitte, über dessen massigem Körper ein Kopf thronte, der so haarlos war, dass seine Gesichtszüge wie Linien auf einer Billardkugel aussahen. Vollständig bekleidet, sein Hals eingeschnürt von einer eng gebundenen, dunkelblauen Krawatte.
„Warum sperren Sie nicht ab, wenn Sie im Bad sind“, erzürnte der sich und hob schnuppernd die Nase, „was ist das für ein süßlicher Geruch?“
Er sprang zum Fenster und riss es auf.
„Alles cool Mann, keine Panik. Wusste nicht, dass man hier absperren muss.“ Jörg zelebrierte den letzten Zug und schnippte den kümmerlichen Rest des Joints nach draußen. „Wie kann man am Morgen nur so ekelhaft wach sein?“ Er rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Augen, die durch das Rauschmittel Landkarten aus roten Äderchen glichen.
„Schon mal was vom Rauchverbot gehört?“, zischte der Angesprochene und stapfte zu seiner Zimmertür, „sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind.“
„Ich bin übrigens Jörg“, rief der hinterher und bekam überraschenderweise eine Antwort.
„Schröder, für Sie einfach Schröder!“ Das Knallen der Türe war ein Ausrufezeichen.
Schulterzuckend begann Jörg, Rasierschaum anzurühren. Zu diesem Zweck gab er einen Strang von drei Zentimetern Rasiercreme in eine Keramikschüssel und ließ warmes Wasser hinein laufen. Mit einem Rasierpinsel aus Dachshaarborsten rührte er um, bis der Schaum die richtige Konsistenz hatte und seifte mit bedächtigen Streichbewegungen sein Gesicht ein.
Während er auf das Aufquellen des Dreitagebartes wartete, öffnete sich die Tür zum Nachbarraum wieder, diesmal allerdings ohne Erdbeben.
„Ich hab `keine Zeit zu warten, muss zu einem Termin.“
Schröder platzierte Armbanduhr und Smartphone auf `seine´ Ablage, um sie jederzeit im Blick zu behalten.
„Ist doch genügend Platz für uns beide.“ Mit geübtem Griff hielt Jörg die aufgeklappte Klinge mit Daumen und drei weiteren Fingern vom Gesicht weg, straffte mit der anderen Hand die Haut und führte das Messer über die Wange.
Schröder schüttelte den Kopf.
Normalerweise schlief er in einem richtigen Hotel, nicht in einer solchen Absteige. Ein Bad für zwei Gäste – untragbar.
Dummerweise hatte er vergessen, rechtzeitig zu reservieren und am Ende dieses Loch bekommen. Nachdem ihm sein Arbeitgeber die Sekretärin gestrichen hatte, musste er sich um alles selbst kümmern.
Schröder erschrak, als er sich im Spiegel sah. Das Glas war fast blind. Es hatte einen Sprung, der sich verzweigte, wie ein Riss quer durch sein Gesicht. Ein zerfetztes Bild, falsch zusammengesetzt.
Er schloss die Augen und dachte an seine Frau. Mit dem untersetzten Körper und der zu großen Nase war er kein Hauptgewinn, das war ihm klar. Aber hatte er nicht immer gut für sie gesorgt? Warum hatte sie ihn verlassen … nach mehr als 20 Jahren Ehe?
Schröder sah Jörg von der Seite an.
„Wie kann man sich bloß nass rasieren, das dauert doch ewig.“
„Ist wie `ne Teezeremonie. Solltest du auch probieren, hilft beim Runterkommen.“
„Sie machen es sich einfach. Es gibt Kundentermine und einen Chef, der mir ständig im Nacken sitzt.“
„Schon mal daran gedacht, dein Leben zu ändern?“
„Und den ganzen Tag bekifft durch die Gegend zu laufen, wie Sie?“
Jörg hielt inne. „Du weißt nichts von mir. Ich führe ein freies Leben als Künstler und habe nicht vor, an einem Herzinfarkt zu sterben.“ Er setzte seine Rasur fort.
Schröders Blick fiel auf die Uhr. „Verdammt, jetzt muss ich unrasiert zu meinem Kunden, vielen Dank auch!“
Sein Smartphone meldete sich. „Hier Schröder.“
Sein Gesicht nahm die gelbliche Farbe der Wand an. „Verstehe … da kann man dann nichts machen … ebenfalls … wiederhören.“
Der kleine Mann ließ die Schultern hängen.
„Was ist los?“ Jörg trocknete Schaumreste ab.
„Mein Termin … der Kunde hat abgesagt. Hat ein besseres Angebot bekommen, so ein Mist.“
„Dann hast du ja genügend Zeit, dich zu rasieren.“
„Das muss ich nicht mehr.“
„Ach, warum das auf einmal?“
Schröder nahm die Krawatte ab und öffnete die zwei obersten Knöpfe seines Hemdes.
„War der einzige Kunde für heute.“
Resigniert sah er Jörg an. „Ich bin übrigens Edgar. Sag mal, hast du vielleicht noch so eine … ich meine …“
„Ne Tüte? Klar Mann, kein Problem.“
Mit geschickten Fingern drehte Jörg einen Joint, den Edgar genießerisch rauchte.
Nach wenigen Zügen strömte die Nervosität aus ihm heraus wie Luft aus einem zu stark aufgepumpten Ballon.
Version 3