Marina Pappas

Ich nahm einen kräftigen Zug von meiner Zigarette. Wenn mich das Rauchen nicht umbringen würde, dann solche Szenen, die mich jetzt gleich erwarten würden. Oder vielleicht doch eine verirrte Kugel. Ich bezweifelte, dass ich an Altersschwäche, in meinem Bett sterben würde. Noch einen Zug.

Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür.

Vor mir eröffnete sich ein Szenario, dessen Bild ich so schnell nicht vergessen würde. Mein Magen wollte die leckeren Weihnachtkekse von Doreen, unserer Sekretärin, wieder hergeben. Im Hintergrund konnte ich Weihnachtsmusik hören. Ich blickte mich um und sah Alexa, die eine eingeladene Playlist wiedergab. Ich stand weiterhin wie gebannt im Türrahmen. Unfähig, Gesehenes zu erfassen und einzuordnen.

Hinter mir hörte ich Würgegeräusche. Immer wieder wurden neue Kollegen mit zu solchen Einsätzen geschickt. Zur Abhärtung, wie mein Chef, nicht müde wurde zu erklären. Die Weihnachtsmusik fing an, an meinen Nerven zu zerren. Ein geschäftiges Treiben fand in diesem Raum statt. Ich nahm die Spurensicherung nur wie eine Zeitlupe war. Ein Schritt nach dem anderen ging ich hinein und ich nahm den Raum und seine Bilder immer weiter in mich auf. Etwas stoppte mich. Ein in Weiß vermummter Mann trat mir entgegen und sagte etwas, ebenfalls in Zeitlupe. „Kooomiiisarrr, siiieee müssssen diiiessse Üüüberschuuuhe anziehen, um den Tatort nicht zu kontaminieren.“ Seine Aussprache hatte sich normalisiert. Die Zeit lief wieder in realer Geschwindigkeit. Ich schnappte mir die Überschuhe, lehnte mich an die Wand, um sie über meine Schuhe zu ziehen. Auf der Kommode links vom Eingang stand ein Kästchen mit Einmalhandschuhen. Ich griff zu und zog sie über. Sie waren eng und der Geruch nach Puder und Latex raubte mir im ersten Moment den Atem. Ich fragte mich, warum sie denn gepudert waren. Es gab so viel Menschen, die gegen dieses Puder allergisch waren. Der Gedanke beschäftigte mich nur kurz und war dann auch schon wieder verdrängt worden.

Weihnachten, das Fest der Familie und der Liebe. Selten wurde so viel gezankt wie an Weihnachten. Das erste, das die Menschen stresste, waren die Geschenke. Dieser Kommerz, Ich hasste ihn. Warum musste Weihnachten denn immer so kostspielig sein? Das war auch das, was ich hier wahrnahm. Die Geschenke unter dem Baum waren noch verpackt. Schöne bunte Geschenkpapiere wurden verwendet. Hübsche Schleifen zierten die einzelnen Pakete. Ich meinte den Geruch des Weihnachtsbaums wahrzunehmen. Harz und Wald. Es könnte gut riechen, wenn nicht schon überall die Desinfektionsmittel den weihnachtlichen Geruch langsam verdrängen würden. Die Beistelltische waren schön dekoriert. Kleine Holzfiguren, die in einem kleinen Weihnachtsdorf verteilt standen. Das Weiße des Schnees, war nicht mehr zu erkennen. Rote Farbe hatte es verunstaltet. Nein, keine rote Farbe, das war mir gerade wieder eingefallen.

Diese Weihnachtsmusik, auch noch moderne Musik. Wie konnte man mit dieser modernen Discomusik denn überhaupt in Weihnachtsstimmung kommen? Ich war versucht Alexa eine ordentliche Playlist zu diktieren. Aber dann würde ich den Tatort verändern. Das könnte dem Staatsanwalt gefallen. Bräuchten wir den Staatsanwalt überhaupt? „Gibt es Überlebende?“ Fragte ich den mir am nächsten stehenden Polizisten. Er zuckte mit den Schultern und zeigte zu einer Frau, die am anderen Ende des Raumes stand. Ja – Eva. Natürlich war sie hier. Sie war die leitende Beamtin dieses Bezirkes. Ich erinnerte mich an ein anderes Weihnachten. Glückliches Lachen und gemütliche Stunden zu zweit. Ja, das waren noch andere Zeiten. Bevor die Karriere in den Vordergrund drängte.

Ich nickte ihr zu, sie nickte zurück. Man kannte sich halt. „Hallo Jan, was ein Chaos, hä. Chaos unterm Weihnachtsbaum.“ Schmunzelte sie, um dann sofort ernst zu werden. Sie wollte ja nicht, dass jemand sie für Pietätlos hielt. „Ja, haha. Hallo Eva. Lang nicht gesehen. Zum Glück.“ Doppeldeutigkeit war meine Stärke. „Immer wenn wir uns sehen, wird es blutig. Nicht wahr?“ sagte ich zu ihr. Ich ließ meine Hand über das Szenario vor uns gleiten. „Was meinst du ist passiert?“ „Nun, ich denke eine Familientragödie, oder?“ Ja offensichtlich, dachte ich.

„Gibt es Überlebende?“ Fragte ich sie, während ich den Mann betrachtete der am Kopfende des Tisches saß. Ich legte meinen Kopf schief. Etwas passte hier nicht. Ein kleiner LED-Weihnachtsbaum aus Acryl blinkte mit fröhlichem Farbwechsel an einer Stelle, an der er nicht sein sollte. Fast hätte ich ihn herausgezogen, um ihn wieder an seinen Platz zu stellen. Man konnte deutlich den Abdruck erkennen, die dieser Baum vorher eingenommen hatte. Bevor er zweckentfremdet wurde, muss eine rote Flüssigkeit ausgelaufen sein, die um seinen kleinen Stamm gelaufen ist, in dem die Batterien enthalten sind. Ich blickte mir das Bildnis, des letzten Abendmahls an. An den jeweiligen Kopfenden saßen die Eltern. Links und rechts von ihnen konnte man eine je ältere Dame und einen älteren Herren sehen. Ich würde vermuten, dass es sich um die Großeltern handelte. In der Mitte waren drei Teenager, die ihre Handys immer noch in den Händen hielten. Ich rieb mir die Augen, da ich fast meinte zu sehen, wie sie auf dem Sendebutton bei Twitter drückten. Selbst im letzten Moment zählte noch immer der beste Post. Vielleicht sollte ich mich auf den sozialen Medien umgucken um das ganze hier entschlüsseln zu können. Alle waren grausam ermordet worden. Und zwar mit verschiedenen Weihnachtsdekorationen. In den Kindern steckte im Herzen jeweils eine strohalmgroße Zuckerstange. Ich zog eine heraus, um sie mir genauer anzusehen – sie war zugespitzt. Ich blickte mich um und konnte einen Blumentopf sehen, der mit eben solchen Zuckerstangen dekoriert war. Die Mutter hatte einen Weihnachtsstern in der Stirn stecken und die vier Grosseltern hatten Lichterketten als Halsschmuck. Allerdings war dieser etwas zu eng angelegt – sie waren erstickt. 

„Wir haben also neun Personen beim Weihnachtsessen.“ „Das hast du ja schon mal gut erfasst. Jan. Und keine Überlebenden.“ Ich ignorierte ihren Sarkasmus. Neun Personen, drei Generationen. Aber wer hat angefangen? Und wie konnte es sein, dass alle ruhig sitzen geblieben waren, als der Mörder herein kam, um dem Vater den Weihnachtsbaum in den Hals zu rammen?

Vor mir entstand ein Bild, ein Video. Ich sah die gestresste Mutter. „Deine Eltern sind schon wieder zu früh. Immer sind sie zu früh. Ich bin noch nicht mal mit dem Essen fertig, geschweige denn umgezogen. Da kann deine Mutter ja wieder fein über mich herziehen.“ „Meine Mutter zieht nicht über dich her. Sie gibt dir nur Tipps wie du das alles besser managen kannst. Bei ihr stand immer alles pünktlich auf dem Tisch. Da wurde nicht noch gerührt und gepanscht, wenn schon Gäste da waren. Selbst wenn man zu früh kam, war das Essen schon bereit. Vielleicht solltest du nur mal Tipps annehmen.“ „Das ist ja klar, dass du wieder zu deiner Mutter hältst. Nur einmal könntest du mich unterstützen.“

„MAMA. Jenny nervt mich schon wieder. Sie stört mich ständig beim Musik hören.“ „Das ist gar nicht wahr. Ich störe dich nicht beim Musik hören, ich störe dich beim Selfie machen für deinen Freund. Nackt Selfies. Ohhh Markus, ich liebe dich, ich will mehr von dir sehen. Ohhh.“ „Verpiss dich und kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, du Nerd. Bist ja nur eifersüchtig.“

Ich spulte vor. Wie bei einer alten VHS Kassette im Schnellvorlauf, sah ich wie die Familie sich im Laufe des Abends verhieltund stritt. Mir reichte es schon, in die gestressten und genervten Gesichter zu blicken, um zu erkennen, Weihnachten war hier kein ruhiges Fest. Ich blickte wieder auf die vielen Personen, die regungslos an ihren Plätzen zu finden waren. Wer hatte das Fest beendet? Wem ist der Kragen geplatzt? Ich ging zum Kamin. Asche war auf dem Boden verteilt. Das hätte die Hausfrau niemals zugelassen, nicht wenn die Schwiegereltern und Eltern zu Besuch kamen. Ich bückte mich und blickte in den dunklen Schacht. Natürlich war nichts zu sehen, eine unnötige Geste, die ich mir hätte sparen können, aber schön theatralisch wirkte. Dachte ich, bis ich Evas Blick auffing. Skeptisch betrachtete sie mich. „Und, hast du die Spuren des Weihnachtsmanns gesehen?“ Ich ignorierte sie erneut.

Ich ging zum Fenster. Ein Fenster, das man nach oben öffnen konnte. Die fand ich ja so praktisch. Am offenen Verschlussriegel des Fensters fand ich ebenfalls Aschespuren. Und Haare. „War hier schon jemand von der Spurensicherung?“ Alle schüttelten den Kopf. Ja, warum auch die Fenster überprüfen? Ich entnahm eine Tüte und eine Pinzette aus meiner Innentasche und sammelte die Haare ein. Dann gab ich sie einem der Techniker. Ich schnappte mir einen der Schneemenschen in ihren weißen Schutzanzügen, damit Fotos und Spuren gesichert wurden. Solch unnötige Verzögerungen nervten mich. Zu viele Köche verdarben den Brei. Soviel Leute sammelten und knipsten und doch übersahen sie wichtiges. Ich konnte jetzt endlich das Fenster öffnen. Am äußeren Fensterbrett konnte ich teile von Fußabdrücken erkennen. Und abgebrochene Äste, wie von einem Reisigbesen, oder von einer Rute.

Eine Gänsehaut an den Armen ließ mich erschaudern. Es war Weihnachten. Familien, die nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander feierten. Ständiges Gezeter und Gezicke. Egoismus. Das würde doch nicht vom Weihnachtsmann belohnt werden. Ich zog meinen Kopf wieder ins Innere des Raumes. Wer würde so etwas bestrafen? Es gab nur einen. Das würde auch erklären, warum niemand geflohen war, oder sich gewehrt hatte. Dunkle Magie war im Spiel. Ich blickte wieder hinaus. Meine Augen versuchten sich scharfzustellen. Ich erkannte blutige Fußspuren. An der Ecke stand jemand. Ich lehnte mich etwas weiter vor. Da war er. Der Henker des Weihnachtsmanns. In einer dunkelbraunen Kutte mit einem Korb auf dem Rücken und einer Rute in der Hand. Er blickte mich an und winkte. Ein hässliches Lachen ertönte. Knecht Ruprecht. Der Vollstrecker.

 

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