Von Felicitas Jacobs

Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür. 

Blickte in einen Flur, von dessen Decke ein giftgrünes Fahrrad hing, das mir als Erstes ins Auge stach. An einer Hakenleiste bäumten sich Berge von Kinderanoraks, Mäntel und Jacken. Seltsam, dass so gar kein Laut zu vernehmen war. Nach meinem Klingeln unten war ich mit dem Summer und einem fröhlichen „Oben ist offen…“ aus der Sprechanlage empfangen worden. Hatte mindestens fünf Minuten vor der Wohnung gestanden, war immer wieder in Gedanken meinen Plan durchgegangen, hatte die Adresse überprüft, die Handtasche gecheckt. Dann gab ich mir einen Ruck.

Jetzt ging ich vorsichtig an sechs Zimmertüren vorbei, bis eine breite Flügeltür den langen Flur beendete. Plötzlich wurde sie aufgestoßen und gab den Blick auf ein Berliner Zimmer mit Erker frei. Gleichzeitig erfüllte schlagartig Lärm den Raum: Lounge Musik erklang, Menschen traten aus allen Zimmern und schlenderten um mich herum. Kinder jagten sich kreischend durch Flur und Räume, irgendwo sah ich tanzende Paare. 

Ich stand unentschlossen an der Wand, verwirrt von all dem Trubel. Jemand kam mit einem Tablett von Gläsern vorbei und reichte mir eins. Noch bevor ich nachdenken konnte, nippte ich wie von selbst an einem Prosecco. Von irgendwoher roch es plötzlich nach frisch gebackenem Kuchen und ich bemerkte, dass ich hungrig war. Atmete durch. Es konnte ja nicht schaden, meinem Vorhaben eine Nahrungsgrundlage zu geben. 

Also schob ich mich an einem turtelnden Pärchen vorbei in die Küche und löffelte Salat auf einen Teller. Rucola in Farfalle mit getrockneten Tomaten, Oliven und Pinienkernen. Es schmeckte fantastisch. Plötzlich stand eine junge Frau neben mir und drückte mir eine grüne Spritztüte in die Hand.  „Kannst du die Lebensmittelfarbe auf den Puddingschalen verteilen? Vielleicht hübsche Bilder malen?“ Sie sah mich aufmerksam an. „Kannst du malen?“ Ihre zusammen gekniffenen Augen musterten mich wie ein verschwommenes Bild. „Ich weiß nicht,“ antwortete ich ratlos und starrte auf die Spritztüte. 

„Na, macht nix,“ sagte die junge Frau resolut und warf den Kopf nach hinten. Ihr Pferdeschwanz wippte. „Gib dein Bestes. Hauptsache, die Farbe knallt. Die Kinder lieben Phosphorfarben.“ Sie musterte mich von oben nach unten. Ich schaute an mir herab. Jeans, flache Pumps, Leinenbluse. Was gab es da zu sehen? Sie zuckte die Schultern. „Großeltern können anziehen, was sie wollen. Und immer anstellen, wonach ihnen ist. Kinder lieben ihre Großeltern kompromisslos,“ sagte sie und begann zur Salsa Musik mitzuschwingen.

 Großeltern? Was um Himmels Willen meinte sie? Pferdeschwanz stoppte abrupt und musterte mich erneut. „Hm. Du warst bei der Auftaktbesprechung gar nicht dabei.“ Auftaktbesprechung? Ich schwieg und kaute. „Zu wem gehörst du eigentlich?“ fragte sie mich plötzlich mit einem Hauch von Misstrauen in der Stimme. Ich hatte den Mund voll und machte eine entschuldigende Geste. „Sascha? Merve? Artur? Oder vielleicht sogar Matilda?“ 

Ich nickte. Was auch immer sie daraus schließen mochte, ich würde es akzeptieren. 

Es hatte lange genug gedauert, bis der Detektiv die Adresse meines ehemaligen Kollegen ermittelt und mir zusammen mit einer gigantischen Rechnung präsentiert hatte. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass er auch tatsächlich hier wohnte und nicht nur gemeldet war. 

In meiner Umhängetasche spürte ich den Schockstab. Ich würde diesem Vergewaltiger, dem ich vor einem Jahr nur knapp hatte entkommen können, ein für alle Mal eine Lektion erteilen, wenn schon unsere Gerichtsbarkeit dazu nicht in der Lage gewesen war. Ich wusste, dass solch ein Schockstab äußerst schmerzhaft ist. Logisch, wenn mehr als 50.000 Volt den Körper durchströmen. Ich hatte an einer Porzellanpuppe geübt, nicht länger als einen Augenblick im Kontakt mit ihr zu bleiben. Ein lebendes Opfer müsste sonst mit schweren Verletzungen des Nervensystems sowie dauerhaften Schäden der geistigen Fähigkeiten und körperlichen Funktionen rechnen, hieß es. Und auch wenn ich mir in manchen Tagträumen genau das für ihn wünschte – ich würde nicht für ihn ins Gefängnis gehen, für diesen…

Ich zuckte zusammen, als Pferdeschwanz mich unvermittelt weiter in den Raum schob, zu einer kleinen Speisekammertür. „Hier. Die Puddingschalen. Einfach hübsch Farbe drauf, egal wie.“ Dann verschwand sie.

Also gut, die Kammer. Wenn er hier wohnte, würde ich ihn schon noch treffen, früher oder später. Vor meiner Tat wollte ich nicht auffallen, also machte ich einfach mal mit, bei was auch immer. Eine niedrige Tür markierte den Eingang zu einem kleinen Abstellbereich in der Küche. Ich öffnete sie. Auf riesigen Regalen bis hoch zur Decke stapelten sich Lebensmittel, Büchsen, Tüten, Kartons. 

Dann sah ich ihn. Auf dem untersten Regalbrett, zwischen Basmatireis-Tüten und Nudelpaketen, lag ein männlicher Körper in stabiler Seitenlage und starrte mich mit offenen Augen an. Mein Ex-Kollege. Der, den ich gesucht hatte. Sah das jetzt wirklich?

Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er war immer noch da. Ich musste einen Schrei ausgestoßen haben, anders konnte ich mir die plötzlich aufgetauchte Traube von Partygästen um mich herum nicht erklären. „Was hast du getan?“ flüstere eine junge Frau neben mir. Ich fuhr herum zu ihr. Schwarze Augen unter einem strengen Pagenkopf musterten mich. „Getan? Was soll ich getan haben?“ Ich versuchte ruhig zu sprechen, hörte jedoch, wie meine Stimme sich nach oben schraubte, einem Kreischen ähnlich. Ein junger Mann mit Hornbrille, Anzug und ernstem Blick fasste mich am Arm. „Gib mir das Messer“, sagte er leise. „Messer?“ 

Ich blickte in seine eisblauen Augen und spürte, wie mir etwas aus der hinteren Jeanstasche gezogen wurde. Mein Blick folgte der Berührung. Tatsächlich. Ein Messer. Mir wurde schlecht, alles drehte sich. Arme fingen mich auf, als mir die Knie wegsackten. 

„Das ist alles ganz wunderbar“, hörte ich eine Stimme an meinem Ohr. „Du wirst wohl verhört werden müssen. Super. Suuuuper!“ Ich schielte nach oben und sah den Pagenkopf. 

„Der Typ war ein Arschloch. Drehte uns die Sicherungen raus und kam dann, um alles zu reparieren. Angeblich. Gut, dass der kein Unheil mehr anrichtet.“

Sie geleitete mich zu einer alten Holzbank hinter dem Küchentisch. Ich sank auf das Möbel.

„Das ist alles? Er hat Sicherungen rausgedreht?“                           Meine Stimme krächzte.

„Ach, da kam vieles zusammen“, hörte ich den Pagenkopf. „Er ist, äh, war ein frauenfeindlicher Rassist. Psychopath? Unterstützte reaktionäre Parteien.“

Sie legte eine Decke über mich, zart wie Seidenpapier und von tröstlicher Wärme. Ich hörte mich mit den Zähnen klappern. Schielte zu der Kammer.  

Mein Vergewaltiger lag immer noch dort, soweit ich das sehen konnte. Tot! Tot? Ich war versucht, ihm die Augen zu schließen, die weiterhin leer an die Decke starrten. Doch plötzlich zuckte sein rechtes Lid. Hatte ich das gesehen? Oder mir nur eingebildet?  Jetzt zuckte sein anderes Lid. Ich setze mich ruckartig auf, die Decke glitt zu Boden. Mein Herz raste. Hoffentlich würde ich diesen Adrenalinausstoß überleben. Ich schlich zur Kammer, als sich mir jemand in den Weg stellte. 

„Geht es dir wieder besser? Ich heiße übrigens Ruth.“ Pferdeschwanz sah mich prüfend an. „Du bist neu dabei, oder? Wir spielen diese Crime Stories so oft wir können. Ist nicht mehr so einfach zu organisieren wegen der Kinder. Aber irgendwie versuchen wir es trotzdem.“

Ich deutete zitternd mit dem Finger zur Kammer, wo der Mann lag. 

„Crime Story? Der da drinnen, das ist, das war ein Vergewaltiger. Ein echter, wirklicher Straftäter. Ein böser Mensch. Und jetzt soll er…das Ganze hier soll eine Story sein?“

Ich schaute sie an. „Welcher Mann?“ fragte sie. Und lächelte. Als ich erneut zur Kammer deutete, war diese leer. Und alles andere plötzlich still. Ruth zwinkerte mir zu. „Das hier ist mein dreißigster Geburtstag. Crime Stories im Echtzeitspiel sind meine Leidenschaft. Ein paar Schauspieler sind hier auch dabei, doch keiner weiß genau, wer. Cool, nicht? Hat mir Papa zu Weihnachten geschenkt. Und die toten Augen…du bist das erste Mal dabei? Sind aus Kunststoff. Soll ja schließlich echt aussehen,“ lachte sie.  Dann zog sie einen Zettel aus dem Ärmel und deklamierte laut wie eine Marktfrau. „Liebe Leute! Es gibt neue Hinweise. Der Täter hat die Leiche irgendwie beseitigt. Da die Küche direkt neben der Eingangstür liegt, muss er das Haus verlassen haben. Oder die Etage gewechselt? Findet’s raus! Auf geht’s!“

Erwachsene und Kinder drängelten zur Wohnungstür hinaus. Ich stand wie paralysiert, unfähig zu einer Entscheidung. Eine Biene summte durchs Zimmer und knallte gegen eine Wand. Fiel scheinbar leblos auf den Tisch und flog nach kurzer Zeit taumelnd in die Höhe. Ich bewegte mich wie ein Automat und öffnete für sie das Fenster. 

Die Biene segelte weit hinaus in den Abendhimmel. 

Und da sah ich ihn, meinen Vergewaltiger. Unten im Hof schob er ein giftgrünes Fahrrad zur Haustür. Als hätte er mich geahnt, wandte er den Kopf nach oben. Ich meinte ein Lächeln zu erkennen, als er mir kurz zuwinkte. Ich raste in den Flur und zur Wohnungstür – das Fahrrad an der Decke war weg. In meiner Umhängetasche fühlte ich den Schocker. Dann atmete ich tief durch, riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe nach unten.

 

Die Jagd hatte begonnen.

 

Vs 2