Von Melanie Grote

Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür. Wieso hatte ich das nicht schon eher getan? Stattdessen war ich einfach hiergeblieben und nachgedacht. Ich wartete darauf, dass sich etwas tat und die Tür sich vielleicht  von alleine öffnete, aber das war nur Wunschdenken. Also übernahm ich es selbst.
Was sich dahinter hinter der Tür verbarg überraschte mich nicht. Ich hatte es schon geahnt. Der Raum war leer. Ich seufzte. Natürlich war er das. Er musste schließlich leer sein, oder nicht?  Woher kam dieser Gedanke so plötzlich?
Allerdings wurde der ganze Raum von Licht durchflutet. Es wirkte so unnatürlich. Wo kam das Licht her und wo war ich hier? Neugierig betrat ich den Raum. Ich suchte ihn nach ungewöhnlichen Dingen ab, doch mit Ausnahme des seltsamen Lichts konnte ich nichts entdecken. Und dennoch verschwand ich mitten im Licht. Ich wurde durchsichtig. Ich sah mich nicht mehr. Wie konnte das passieren? Ich war doch noch da.
Das Licht durchflutete mich. Ich wurde zu dem Licht. Mir wurde warm. Dann erschien plötzlich eine Gestalt vor mir. Sie wirkte schimmernd und klein und sehr lieblich.
“Hallo, ich bekomme Gesellschaft. Wie schön“, begrüßte sie mich grinsend.
“Wer bist du?“, fragte ich verwundert.
“Ich bin das Licht“, antwortete die funkelnde Gestalt. „Das Licht in dir.“
Verwirrt starrte ich die Gestalt an. Eine Lichtgestalt? So ganz verstand ich es nicht.
„Wie kannst du das Licht in mir sein?“, fragte ich deswegen nur.
“Das ist kompliziert und doch ganz einfach“, antwortete das Licht. „Licht ist nichts, was man einfach erklären kann. Es kommt und geht und die wenigsten sehen ihr eigenes Licht. Aber dir ist das Glück hold. Du bist durch und durch gut. Deswegen hast du zu mir gefunden.“
“Und was bringt mir das jetzt?“, fragte ich. Nicht, dass ich das alles glaubte. Das war bestimmt nur ein Traum, in dem ich gefangen war. Aber fragen konnte man ja mal.
Das Licht schien zu lächeln, denn es strahlte heller. „Schön, dass du fragst. Du hast die Wahl. Entweder du gehst jetzt durch eine weitere Tür und entscheidest dich für ein Leben in Licht oder du gehst zurück auf die Erde und lebst dein Leben so weiter wie du es bisher getan hast.“
“Wird mein Leben denn nicht von Licht begleitet, wo ich doch so gut bin?“, wollte ich wissen.
“Das darf ich dir nicht sagen. Es würde zu viel verraten“, antwortete das Licht.
“Und was ist hinter dem Tor, wo das Licht ist?“, fragte ich.
„Das darf ich auch nicht verraten.“ Das Licht sah mich entschuldigend an.
Natürlich durfte es das nicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Wie sollte ich mich entscheiden?
Ich dachte über mein Leben nach. Was hatte ich eigentlich davon? Ich hatte Freunde und Familie und ich half Menschen, aber ich selbst stellte mich ziemlich zurück. Doch wollte ich wirklich die Menschen, die mir wichtig waren verlassen?
„Was passiert mit den Menschen, die ich liebe?“, fragte ich deswegen.
„Ah, interessant, dass du fragst.“ Dem Licht schien die Frage zu gefallen. „Sie werden dich vermissen, aber nur als Erinnerung. Es wird nicht schmerzhaft sein.“
„Und wie wird das bei mir sein?“, erkundigte ich mich weiter. Ich wusste nicht, ob mir die Vorstellung gefiel.
„Du wirst nur eine Erinnerung behalten. Die wichtigsten von allen. Und zwar die große Liebe.“ Was immer das heißen mochte. Das Licht sprach in Rätseln zu mir. Am besten fragte ich gar nicht weiter. Ich würde vermutlich sowieso keine zufriedenstellende Antwort bekommen.
Erde oder Tür? Das war die Entscheidung. Die Neugierde siegte. Ich war schon immer sehr neugierig gewesen und auf Abenteuer aus.
„Ich wähle die Tür“, entschied ich mutig.
„Das dachte ich mir schon. Du bist eine treue Seele und die Menschen, die du liebst sind dir wichtig, aber du bist auch offen für neues. Dann geh durch die Türe und lass dich überraschen. Ich verabschiede mich nun von dir, denn mein Part ist hiermit erledigt. Es war mir eine Ehre dich kennenzulernen.“
Und damit verschwand das Licht und die besagte Tür wurde automatisch geöffnet. Ich ging hindurch, ohne mich noch mal umzusehen. Hätte ich das getan, hätte ich vielleicht einen Rückzieher gemacht.
Doch ich machte keinen Schritt zurück. Die Tür verschluckte mich und erstmal war alles ganz hell. Ich schritt hindurch und befand mich schließlich auf einer Wiese. Es war so ruhig hier, eine leichte Brise fegte über meine Haut und die Sonne schien am Himmel. Es war schön hier, aber wo war ich gelandet?
Eine Weile schlenderte ich über die Wiese. Wo waren denn all die Menschen hier? Ich konnte doch nicht ganz alleine sein.
Je weiter ich in diese Welt spazierte desto einsamer fühlte ich mich. Was war hier los? Mein Licht hatte doch etwas von Licht erzählt.
Vielleicht musste ich einfach etwas Geduld haben.
Und dann hörte ich Musik. Wo kam sie her? Ich lauschte und folgte dann dem Klang. Auf einem großen Platz waren viele Wesen versammelt. Wirkliche Menschen schienen es nicht zu sein. Das sah ich auf Anhieb. Sie wirkten irgendwie magisch.
Ich sah mir das genauer an. Waren das Weihnachtsfiguren? Nein, das konnte nicht sein, oder? Ich ging noch näher dran. Es waren tatsächlich Weihnachtsfiguren. Nur waren sie alle lebendig und feierten irgendwas.
Je näher ich kam desto ausgelassener wurde die Stimmung. Seltsam. Das schien mir nicht die Welt zu sein in die ich gehörte. Weihnachtsfiguren? Wirklich?
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Doch da entdeckte mich schon die erste Figur. Sie sah mich aus leuchtenden Augen an und winkte mich herüber.
Zögernd ging ich zu dem weihnachtlichen Platz. Die Figur begrüßte mich winkend. Das war etwas bizarr. Sie sah aus wie ein Engel. So wunderschön. Sie hatte goldenes langes Haar, ein liebliches Gesicht und ein durchdringendes weißes Kleid an.
“Hallo, wer bist du denn?“, fragte sie mich freundlich und musterte mich ausgiebig.
“Ähm, ich heiße Marvin“, antwortete ich. „Und wer bist du? Wo bin ich hier gelandet?“
“Ich bin Rebecca“, stellte sie sich vor. „Und du bist hier im Weihnachtsland, dem Land des Lichts. Herzlich Willkommen.“
“Und was mache ich hier? Sind hier nur Weihnachtsfiguren?“ fragte ich.
“Genau, und du kannst auch eine werden. Werde zum Licht“, forderte sie mich auf.
“Dafür bin ich aber nicht hier“, gab ich zu Bedenken.
“Doch, genau dafür bist du hier. Das ist deine Bestimmung“, wiedersprach sie mir.
“Und woher willst du das so genau wissen?“, fragte ich zweifelnd.
“Deswegen“, antwortete sie nur und plötzlich blendete mich wieder ein gleißendes Licht. Die Frau verwandelte sich und ich erkannte sie tatsächlich wieder. Sie war meine Liebe und doch wieder nicht. Tausende von Bildern strömte auf mich ein und ich sah mein Leben wie ich es so oft schon gelebt hatte.
“Lacey“, sagte ich erstickt.
“Ganz genau. Hallo, Marvin. Wie schön, dass du den Weg zu mir gefunden hast.“
“Bin ich tot?“, fragte ich verwirrt. Lacey kannte ich aus einem anderen Leben.
“Wie man es nimmt. In deiner Welt schon. Du bist an Weihnachten gestorben“, erzählte sie mir. „Auch wen dir das vielleicht nicht so direkt vermittelt wurde.“
“Aber wie? Wie kann es sein, dass ich dann noch hier bin und dass du hier bist?“ Ich verstand es nicht. Hatte ich überhaupt irgendeine Wahl gehabt? Wie hatte ich hierher gefunden?
“Weil das Licht uns geführt hat“, antwortete sie. „Es führt die Guten, die an Weihnachten sterben hierher und wir werden zu Figuren. Doch wir leben immer noch.“
“Ich verstehe es immer noch nicht“, meinte ich verwirrt.
“Du wirst es mit der Zeit verstehen“, erwiderte Lacey zärtlich. Sie nahm seine Hand in ihre und verschränkte seine Finger mit ihren. „Jetzt komm erstmal. Ich zeige dir alles. Noch bist du menschlich. Erst, wenn du länger hier bist wirst du zur Figur.“
Und so ließ ich mir von Lacey alles zeigen. Nach und nach verstand ich diese Welt hinter dem Tor etwas besser. Ich lebte mich ein und folgte wie versprochen dem Licht. Ich verließ diesen Platz nicht mehr und wurde zur lebenden Weihnachtsfigur. Immer wieder zogen neue Bewohner hierher, aber Lacey und ich bauten uns unser eigenes Leben auf. Meine Erinnerungen an mein Leben bevor ich hier herkam, waren verschwommen. Das fand ich auch besser so. Ich war glücklich. Ich hatte Lacey an meiner Seite und der Glanz der Weihnacht verließ mich nie. Mehr konnte ich mir nicht wünschen. Ein Leben in Licht war perfekt für mich.

Ende