Von Tina Kliment

Weiße Schleier, von einer unsichtbaren Geisterhand gewebt, schlangen sich um ihren Körper, als sie über den Pfad wandelte. Dieser Pfad war ein Teil ihres Lebens. Wie oft war sie hier entlang gegangen, gerannt oder gekrochen durch die Allee der Riesen, die nun ihr buntes Kleid abwarfen und auf den dunklen Boden zum verwelken zurückließen.  

Zu viele Erinnerungen verbargen sich hinter dem kreischenden Tor, das sich im kalten Sturm der Seelen versuchte Gehöhr zu verschaffen. Sie fragte sich sooft, wie viele Menschen dieser Durchgang gesehen haben musste, ob sie nun die Luft noch ein gesogen und eine Träne diesem Platz geschenkt hatten oder schon ein Bestandteil davon wurden. 

Eine kleine Geste, nur ein Nicken, ein kleiner Wink mit der Hand, eine Art Verbeugung und ein letzter Schnitt tief in ihr Fleisch, vor dem Tor zum Jenseits, bezahlten den Wegzoll, den sie schon unzählige Male gezahlt hatte. 

Krampfhaft versuchte sie aufrecht zu gehen, doch sie schaffte es einfach nicht. 

Der Regen vermischte sich mit ihrem Blut. Das leise Knirschen unter ihren Füßen, das weiße Meer, in dem sie sich immer mehr integrierte, die Totenhügel um sie herum, nichts bemerkte sie, bis auf den Schlag der sie traf.

Harte Dunkelheit bedeckte für einen Bruchteil einer Sekunde ihre farblosen Augen. Sie atmete bis sie glaubte ersticken zu müssen. 

Was wenn sie es jetzt tat? Was, wenn sie einfach aufhörte? Was, wenn sie einfach nicht mehr atmen würde? 

Doch irgendetwas zog sie zurück, vielleicht war es der Teil in ihr der nicht kämpfen mochte und es doch an jedem neuen Tag schaffte. Doch insgeheim wusste sie, was es war, denn vor ihr lag etwas, was sie sorgsam auflas und ihrer Hand behielt.  

Sie kroch weiter auf dem Weg der Verlierer und wieder einmal fragte sie sich, wie weit sie gehen musste, bis sie gesehen wurde. Nicht von denen, die immer vorne standen um besser zu sehen wie sie von neuem zu Boden ging. Sie wollte von denen gesehen werden, von denen sie glaubte es wären Menschen.

Sie breitete die Arme aus, bestieg die Klippe, die in der rauschenden, blauen Verdammnis endete und die hinter dem leeren Grab lag. 

Noch ist es leer. 

Was wenn sie springt, was wenn sie es tut, was wenn sie heute zu fliegen versucht?

 Nur ein kleiner Schritt und die klägliche Grabstätte würde eine Aufgabe erhalten. 

Mit geschlossenen Augen, einem durchnässten Gerüst von Knochen, dunklen Haaren, die an ihrer blassen Hülle festklebten, mit verlorenen Träumen, einer gebrochenen Seele und blutigen Tränen, verhüllt von Schemen des Nebels, Gedenkstätten und dem Totenmal, dessen Stein ihren Namen trug, stand sie da auf vermodernden Blättern. 

Was, wenn sie springt? Was, wenn sie heute zu fliegen versucht? Was, wenn es heute der letzte Tag war?

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, öffnete die Augen und schaute neben sich, denn sie spürte, sie war nicht allein. 

Sie starrte direkt in die schwarzen Augen einer Krähe mit glänzendem Gefieder. Sie umklammerte die Feder, die sie in ihrer Hand hielt. 

Wieder war er gekommen, doch mit einem Unterschied, dass er ihr eine weiße Rose als Geschenk dar brachte. 

Ihre Gedanken schweiften zu dem Tor, den Wegzoll den sie entrichtet hatte, ihr Blut, das Kreischen, der Nebel, der Regen, die Nacht der lebenden Toten. Und ihr Krieger im schwarzen Gewand, der ihr einen reinen, einzigen und doch bedeutsamen Gedanken gebracht hatte:    

Lebe.