Von Ingo Pietsch

Ich stieß den Spaten in die Erde und vernahm ein metallenes „Plong“.

Das Geräusch kam wie aus weiter Ferne, da ich Richtung Havel schaute, die am Ende des Grundstücks träge dahinfloss.

Fein Lichtstrahlen fielen durch die Kronen der alten Obstbäume, die ein riesiges Dach bildeten. Viele der Bäume trugen schon lange keine Blätter, geschweige denn Früchte mehr.

Meine Sommerferien hatte ich immer bei Oma Conni verbracht.

Wir hatten dann zusammen Äpfel, Birnen und Kirschen gepflückt und sie dann eingekocht.

Ich hatte die Zeit damals sehr genossen.

Oma Conni war jetzt im Pflegeheim und ich hatte den Bungalow hier in Potsdam übernommen, da meine Eltern kein Interesse daran hatten.

Kurz nach der Wende, vor dreißig Jahren, hatten mich meine Eltern, im Alter von Sechs, mit in den Westen genommen und außer an Feiertagen oder Geburtstagen schienen sie keinen Grund mehr zu haben, in die Heimat zurückzukehren.

Oma Conni war darüber sehr traurig gewesen, aber sie hatte stets ein offenes Ohr, wenn einer von uns Sorgen oder Nöte hatte.

An dem Haus musste eine Menge gemacht werden. Doch was mich am meisten störte, waren diese braunen, vertrockneten Koniferen, die mein Opa um die Terrasse gepflanzt hatte.

Natürlich würden auch die meisten anderen Bäume gefällt werden, aber das hier hatte Vorrang.

Ich buddelte weiter die Wurzeln aus und diesmal nahm ich das „Plong“ wirklich war.

Nach kurzem Graben hatte ich einen verrosteten Schachtdeckel freigelegt. Er befand sich direkt am Rande der Terrasse und ich hebelte ihn auf.

Licht fiel in das Loch und ich erkannte an dem schwarz-glänzenden Belag, der an den Wänden des schrägen Schachtes haftete, dass es in den Kohlenkeller führte.

Ich schlug den Deckel wieder zu und entfernte weiter die toten Pflanzen.

Auf der anderen Seite der Terrasse fand mein Spaten wieder Metall, aber diesmal entpuppte es sich als kleiner gusseiserner Gullideckel oder Luftschacht. Er war vollständig mit Erde gefüllt und ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wozu er gut war oder wo er hinführte.

Ich beschloss in den Keller zu gehen, um nachzusehen.

Über eine schmale Treppe gelangte ich nach unten. Hier waren mehrere Räume. Die Decke war sehr niedrig und es gab keine Fenster, was darauf schließen ließ, dass der Teilkeller nachträglich ausgegraben sein musste. Wände und Boden waren verfließt, um die Feuchtigkeit fernzuhalten. Keine Fliese glich der anderen – es war ein buntes, chaotisches Mosaik. 

Stützmauern trennten die großen Räume voneinander ab.

Überall standen Vorratsregale mit Einweckgläsern. 

Erinnerungen kamen in mir hoch, hatte ich doch viele dieser Gläser selbst befüllt.

Im hellen Licht nackter Glühbirnen war allerdings zu erkennen, dass die meisten Früchte wahrscheinlich nicht mehr genießbar waren. Ausgeblichen, halb zersetzt oder schon verschimmelt.

Mich interessierte aber mehr der hintere Teil, der, der sich unter der Terrasse befand.

Zu linker Hand lag noch ein kleiner Haufen alter Kohlen. 

Den Ofen dafür gab es oben noch, aber Oma Conni hatte eine Gasheizung einbauen lassen.

Über dem Haufen sah ich die Rutsche für die Kohlen.

Ich drehte mich um und suchte den anderen Schacht.

Aber vor mir befand sich nur eine Wand mit einem schmalen Eichenschrank.

Er war etwas wurmstichig, aber nicht verschimmelt.

Darin befanden sich Latzhosen, Regenjacken und Gummistiefel. Die hatte ich selbst mal getragen, auch wenn sie mir zu groß gewesen waren.

Ich leuchtete mit meinem Handy die Ecken aus. Die Terrasse war größer als der Kohlenraum. Irgendetwas passte nicht.

Ich schob die Hosen und Jacken auseinander und hielt verblüfft inne: Der Schrank hatte keine Rückwand!

Mit ganzer Kraft schob ich das klobige Ding knarrend zur Seite.

Vor mir befand sich eine Tür mit einem einfachen, schlichten Griff und klobigem Schloss, indem ein großer verrosteter Schlüssel steckte.

Welches Geheimnis mochte sich wohl dahinter verbergen?

Eine schier unendlich lange Zeit stand ich da und starrte einfach nur geradeaus.

Es war still im Raum. 

Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür.

Ein Lichtspalt fiel in den Raum und ich konnte einen eingestaubten Tisch erkennen.

Ich ging hinein und suchte links und rechts neben der Tür mit der Hand nach einem Lichtschalter und drückte ihn dann nach unten.

Die Birne flackerte kurz auf und ging mit einem Knall wieder aus.

Also zog ich wieder mein Handy hervor.

Es gab ein Regal, gefüllt mit Ost- und Westprodukten, vermutlich aus den achtzigern. Ein Radio, eine DDR-Flagge und einen kleinen Kohleofen, dessen Rohr nach oben in der Decke verschwand.

Um den Tisch herum standen zwei Stühle und auf der Platte stand ein Dannemann-Zigarren-Kästchen. Auf dem Deckel stand mit Bleistift geschrieben: Cornelia.

Oma Conni hieß Cornelia.

Meine Hände zitterten, als ich das Kästchen öffnete. Darin lagen mehre Bündel Ostmark. Auf den ersten Blick waren es ein paar Tausend. Und mitten drin glänzte ein goldener Ring. Ich hielt ihn vor das Handy-Licht und erkannte die Initialen meiner Großeltern R+C.

Was machte der Ring in dieser Schachtel, wenn mein Opa kurz vor dem Mauerfall an einem Herzinfarkt gestorben war?

 

Ich besuchte Oma Conni im Pflegeheim.

Ihr ging es dem Alter entsprechend. Sie hatte bis vor kurzem noch alleine gelebt und sich selbst versorgt. Dann war sie gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen. Seit dem hatte sie rasant abgebaut.

Jeden Tag ging es ihr schlechter.

Ich nahm mir deshalb die Zeit und besuchte sie, so oft ich konnte.

„Hallo Oma“, begrüßte ich sie.

„Meen Junge, es kommt mia wie eene Ewijkeit voa, seit du müsch dit letzte Mal besucht hast.“ Sie versuchte sich aufzusetzen, doch es gelang ihr nicht.

„Ich war doch erst vor zwei Tagen hier.“ Ich zog einen Stuhl zu ihrem Bett.

„Würklüsch?“, fragte sie verblüfft. „Wie kommschte du im Gaaten zurescht? Ick weeß, ick hätt ihn meha pflegn solln. Aba in meenem Alta ist dit nüsch meha so eenfach“, entschuldigte sie sich.

„Die Koniferen habe ich alle raus und die meisten Obstbäume werden wohl auch dran glauben müssen.“

„Ick kann müsch noch jut daran erinnern, wie du in den Bäumen herumjeklettert bist und dann die schönsten Früchte jepflückt hast.“

„Ja, das war eine schöne Zeit mit dir. Du, beim Umgraben bin ich auf etwas Merkwürdiges gestoßen.“ Ich holte den Ring hervor.

Neue Kraft wuchs in ihr heran und sie setzte sich auf. Sie wirkte wie ein anderer Mensch. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück und ihre Augen glänzten vor Freude. „Den hast du beem Umgraben jefunden? Den such ick schon seet über dreißisch Jahrn!“

Sie drehte den Ring in den Fingern und Tränen liefen über ihre Wangen.

„Nicht direkt. Ich habe einen Luftschacht entdeckt, der mich zu einem geheimen Raum unter deinem Haus führte. Da habe ich ihn in einer Schachtel gefunden, auf der dein Name stand.“

„Von eenem Jeheimraum wusste ick nüscht. Aba ick muss dia was beechtn. Deen Opa ist nüsch an eenem Herzinfaakt jestorben. Ea ist kurz voa dea Wende eenfach jeflohn. Abjehauen wer-weeß-wohin. Hat niemandem Bescheed jesagt. Wia waren alle so traurisch und wütend, dass wia nie wieda darüber jesprochn habn. Ooch nüsch mit unsern Freunden. Wia waren eenfach nur enttäuscht.“

Oma Conni redete noch den halben Abend von Opa und was er für ein toller Mann gewesen war. Und dass sie nicht verstehen konnte, warum er sich nie gemeldet hatte. 

Vielleicht hatte er jetzt eine neue Familie.

Und auch ich erzählte, besonders von meinen Erlebnissen an diesem Tag, und welch Zufall mich zu dem Ring gebracht hatte.

 

Ich denke, wir fühlten uns beide glücklich an diesem Abend und konnten mit einem Kapitel aus der Vergangenheit abschließen.

Mitten in der Nacht erreichte mich die Nachricht, dass meine Oma friedlich eingeschlafen war. 

Mit einem Lächeln auf den Lippen und den Ring in ihren Händen.

 

Einen Tag später kamen meine Eltern und noch ein paar Verwandte.

Ich erzählte ihnen die gleiche Geschichte, wie meiner Oma.

Wie ich die Koniferen ausgrub, den Geheimraum fand und die Kiste entdeckte.

 

Und auch von dem Gespräch mit der Kriminalpolizei. Denn hinter dem Tisch hatte ich auch die Leiche meines Großvaters entdeckt.

„Vermutlich ist er erstickt, aber das wird die Obduktion noch zeigen, denn auf den ersten Blick kann eine Gewalttat ausgeschlossen werden. Es wäre möglich, dass er an dem von Ihnen geschilderten Tag, an dem er verschwunden war, die Koniferen pflanzte und dabei aus Versehen den Luftschacht zugeschüttet hatte. Alles deutet darauf hin, dass er sich umgezogen, die Hände gewaschen und den Ofen anwarf, da es recht kühl geworden war. Den Ring verwahrte er in dem Kästchen, da er ihn zur Gartenarbeit anscheinend immer abnahm.“

„Und wofür diente dieser Raum ursprünglich?“, fragte ich den Polizisten.

„Schmugglerverstecke. Die Binnenschiffer haben alles Mögliche geschmuggelt. Verbotene Waren oder um keine Steuern zu zahlen. Das waren meist nicht mehr als abgedeckte Löcher in der Erde. Bei Ihnen ist ein ganzer Keller daraus geworden. Bestimmt haben hier im Laufe der Jahre viele Häuser drauf gestanden.“

 

Warum mein e Oma nichts von dem Raum wusste, werde ich wahrscheinlich nie erfahren.

Aber meine Oma hatte immer geglaubt, dass er nicht der schlechte Mensch war, der seine Familie so einfach verlassen hätte und deswegen seinen Tod vorgetäuscht.

 

Mein Opa hatte leider nicht die Möglichkeit sich zu verabschieden.

Aber dafür behalten wir ihn jetzt in guter Erinnerung.