Von Andrea Lopatta

Seit etwas mehr als drei Wochen schon machte Tom nun diesen Job als Wächter der Türen, und es gefiel ihm ausgesprochen gut, auch wenn es manchmal nicht ganz ungefährlich war. Die Ältesten hatten ihn ausgewählt und er gab sich größte Mühe, alles richtig zu machen. 

„Vielleicht ist er doch noch zu jung dafür“, hatte einer von ihnen gemeint. Sein skeptischer Blick hatte ihn verfolgt, bis die offizielle Übergabe abgeschlossen war. 

Pauline sah Tom aus ihren treuherzigen Augen an. Den plüschigen schwarz-weiß-gefleckten Welpen hatte er letzte Woche hinter einer der großen, schweren Türen entdeckt. Sie hatte verängstigt zurückgeblickt, so dass er die beiden Flügel sofort wieder geschlossen und das Schloss so gut es ging versiegelt hatte. Wer weiß, was sonst noch alles durchgekommen wäre? 

Seitdem folgte ihm Pauline auf Schritt und Tritt, war gleichsam seine beste Freundin und seine Beschützerin. Jede noch so kleine Bewegung registrierte sie sofort und konnte in Windeseile einschätzen, ob eine Gefahr in Verzug war oder nur wieder jemand nachschauen wollte, ob Tom auch alles korrekt ausführte. 

Immer nur eine Türe, hörte er die Ältesten sagen. Wenn du mehrere gleichzeitig öffnest, wird das Unglück über uns hereinbrechen!

Selbstverständlich war ihm bewusst, dass zuviel freigesetzte Energie großen Schaden anrichten konnte. Das musste ihm doch niemand erklären! Bereits bei den allerkleinsten Türen verspürte er die große Magie, die dahinter lauerte, noch bevor er sie öffnete. 

Es war, als hätte er sein Leben lang auf diese Aufgabe gewartet. Er fühlte die Türmagie, vor der sich alle anderen offenbar fürchteten. Doch die Tore in die andere Welt mussten geöffnet werden, früher oder später, es gab kein Entrinnen. Waren sie zu lange geschlossen, konnte es sein, dass sich dahinter etwas anstaute, das vielleicht nicht mehr zu bändigen war. Schaudernd dachte er daran, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Er würde Ihn befreien. 

Unter keinen Umständen durfte das während Toms Zeit als Wächter passieren! Eigentlich durfte es überhaupt niemals passieren, aber mit Sicherheit nicht, während er diese Berufung innehatte. Dafür würde er schon sorgen! 

Am Wichtigsten war, dass die Türen genau im richtigen Moment geöffnet wurden, um genau die richtige Menge an Magie zu entladen. Dummerweise wusste niemand im Voraus, wie sie sich manifestieren würde. Pauline war ein Glücksfall. Liebevoll streichelte er der drolligen Hündin über den Kopf. Wenn er da an vorgestern dachte und den zähnefletschenden Bären, der mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zugestürmt kam, brüllend und geifernd… 

Gerade noch rechtzeitig hatte er ihm ein Stück Wandelstoff überwerfen können. Das Tier war danach zahm und konnte ungehindert in die Berge entlassen werden. Doch war dies auch der letzte Rest an Wandelstoff, der Tom geblieben war. Ausgerechnet. Wo er doch heute seine wichtigste Aufgabe zu bewältigen hatte. Die letzte Tür, die er während seiner Amtszeit öffnen musste, war gleichzeitig die größte und gefährlichste. 

„Ach was!“, sprach er sich selbst Mut zu, „Generationen vor mir haben dies schon so oft gemacht. Es wird schon gutgehen.“ 

Zweifelnd betrachtete er den zweiflügeligen Eingang. Noch nie hatte er sich Gedanken gemacht, wie die Magie eigentlich hineingekommen war in all diese Räume. Es war eben so. Schon immer. Und es würde auch immer so sein. Die Türen würden niemals ein Ende nehmen. 

Tom konzentrierte sich auf seinen finalen Auftrag. Lange sah er die verschlossene Pforte an, meinte hin und wieder, ein Fauchen dahinter zu vernehmen oder etwas an der Klinke rütteln zu sehen. Doch der Moment war noch nicht gekommen. Er spannte sich an, fühlte ihn nahen. Gleich gab es kein Zurück mehr. 

Plötzlich sträubte sich Paulines Fell und sie stand neben ihm wie zu Eis erstarrt, ihre Augen zeigten eine unbeschreibliche Angst. 

Tom wusste, was es geschlagen hatte. Er war gekommen! Tausende von Wächtern, hunderte von Generationen, und ausgerechnet bei ihm musste Er auftauchen! Panik stieg in Tom hoch. Pauline knurrte leise, fing dann an zu winseln und kroch langsam rückwärts. Sogar sie ließ ihn allein. 

Seine magischen Waffen waren fast aufgebraucht, lediglich die Feuerkugel hatte er noch übrig. Es war nur eine kleine. Wenn er nicht beim ersten Versuch traf, war er wehrlos und Ihm ausgeliefert. Mit bloßen Fäusten kam er niemals an gegen diesen… Wer war Er eigentlich? Tom hatte viele Geschichten gehört, viele davon furchterregend, aber manche auch schön und friedvoll. Ob Er denn nun eine Bedrohung war oder nicht, da waren sich die Ältesten nicht so einig. Dennoch wussten sie alle, dass man die Begegnung mit Ihm unbedingt vermeiden sollte. 

Tom versuchte, ruhig durchzuatmen und sich auf das bevorstehende Zusammentreffen zu konzentrieren. War da noch jemand im Raum? Er spürte die Anwesenheit von weiteren Personen. Offenbar hatten die Ältesten bemerkt, was sich anbahnte. Doch sie hielten sich im Hintergrund und gaben keinen Ton von sich. 

Es war still im Raum. Tom traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür.

Erst sah er nichts, nur weißen, undurchdringlichen Nebel. Ein Schnaufen ertönte daraus, das immer lauter wurde. Etwas Großes und Schweres näherte sich dem nunmehr freien Fluchtweg. 

Tom starrte angestrengt in den Nebel, bis er schemenhaft die Konturen eines Menschen ausmachen konnte. Als er näherkam, nahm er riesenhafte Ausmaße an. Tom erkannte plötzlich … einen alten Mann? Er wischte sich die Augen. Ein Trugbild, ganz sicher! Aber Er konnte den Wächter nicht täuschen! Das war es also, wieso manche Geschichten Ihn als freundlich und hilfsbereit darstellten – Er trat als alter Tattergreis in Erscheinung, der mit einem freundlichen Lächeln auf seine Opfer zuschritt, bis es zu spät war, um zu fliehen. 

Tom bereitete sich auf den Angriff vor. Die Feuerkugel brannte sich in seine Handfläche. Noch war Er nicht in Reichweite und hatte die Schwelle nicht überschritten. Nur wenige Meter entfernten Ihn noch von Toms Welt. 

Da! Ein schwarzer Stiefel setzte auf dem Boden außerhalb der Tür auf! Ihm folgte der Saum eines wallenden roten Mantels. Er war da! Kaum erschien sein Kopf im Durchlass, da packte Tom die Kampfeswut. Jetzt oder nie! Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, schleuderte er dem entfesselten Bösen die Feuerkugel entgegen. 

Die Zeit schien eine Sekunde lang stillzustehen. Dann krachte es fürchterlich und Er zerbarst in tausend Stücke, wie ein geplatzter Luftballon. Überall lagen kleine braune Stücke herum, die so gar nichts mehr mit einem gutmütigen alten Mann zu tun hatten. 

Es war vollbracht, der Wächter hatte die Welt gerettet! Pauline kam freudig kläffend auf ihn zugesprungen und er nahm sie auf den Arm. Aus den Schatten traten die Ältesten, sicher, um ihn zu beglückwünschen. Hoffnungsvoll blickte er ihnen entgegen. 

„Tommi, es wird Zeit, zu Bett zu gehen. Auch wenn heute Weihnachten ist, musst du jetzt schlafen!“ Elena Kampe sah lächelnd auf ihren Vierjährigen, der ihr mit schokoladeverschmiertem Gesicht den erfolgreich geköpften Nikolaus entgegenhielt, triumphierend, als ob er eine echte Heldentat vollbracht hätte. Innig hielt er mit der anderen Hand seinen kleinen Plüschhund umklammert. Elena wischte Tom die Schokolade ab und trug ihn ins Kinderzimmer.

Fast augenblicklich schlief der erschöpfte kleine Wächter ein, kaum dass seine Mutter das Licht ausgeschaltet hatte. Sein letzter Gedanke galt Ihm. Ein Glück, dass er die Bedrohung noch rechtzeitig abwehren konnte. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen und einem Rest an Schokolade im Mundwinkel entschwand er ins Traumland.

„Was meinst du, Elena, was hat unser Tommi wohl alles erlebt heute?“ fragte Vater Klaus, der das Lächeln mit einem Schmunzeln kommentierte. „Der Kleine hat mit seinen vier Jahren schon mehr Fantasie als die meisten anderen. Wo wird das noch hinführen?“

„Ach Klaus, lass ihn doch!“, grinste Elena. „Er wird noch früh genug mit Anzug und Krawatte am Bankschalter stehen, wenn er nach dir kommt.“

Klaus gab ihr einen sanften Knuff in die Seite. „Aber vielleicht kommt er ja auch nach dir und wird Schriftsteller? Lassen wir uns überraschen.“

Im Vorbeigehen sammelten sie die Spielsachen ihres Söhnchens auf und drapierten die kleinen Figuren unter dem Weihnachtsbaum. 

„Ich finde, das war dieses Jahr ein wirklich geglücktes Fest!“ Elenas Augen leuchteten, weil sie es geschafft hatten, dem Kleinen mit nur einem einzigen Geschenk so viel Freude bereitet zu haben. 

Dem konnte Klaus uneingeschränkt zustimmen: „Nie hätte ich gedacht, dass er es wirklich die ganzen Tage durchhält, ohne ungeduldig zu werden.“

Arm in Arm standen beide Eltern noch ein paar Sekunden im Wohnzimmer vor dem nun leeren Adventskalender mit seinen 23 offenen Türchen und der einen Tür, die der Wächter mit Himbeer-Kaugummi ein- für allemal versiegelt hatte…