Von Ulli Lenz

Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Eine Erinnerung, die sich nicht greifen ließ, hatte mich gestreift. Aufgescheucht durch etwas, dass die Augen unbewusst aufgenommen und an mein Hirn weitergeleitet hatten, war sie durch den Kopf geflattert. Für einen Augenblick hatte sie dabei meine Seele in Aufruhr versetzt. Dieser kurze Moment des Aufwallens eines freudigen Gefühls in der Brust erschreckte und beglückte mich zugleich. Es war doch ein positives Gefühl gewesen, oder?

Langsam legte ich das Tuch weg, mit dem ich gerade das Fenster trocken poliert hatte. Dann bewegte ich mich vorsichtig wieder dahin zurück, wo ich vorher gestanden hatte, in der Hoffnung, den Gedanken zu der unerwarteten Emotion einfangen zu können. Die Augen ließ ich dabei wieder wie zufällig über den Garten und das Nachbarhaus wandern.

Nichts.

Ich erfasste abermals die weiß angezuckerte Wiese und die Sträucher, sah das Vogelhäuschen mit dem Schneehäubchen am Gerüst der Kinderschaukel hängen, bemerkte die Zimmerpflanzen im offenen Küchenfenster des Nachbarn und die Katzenspuren im Schnee auf seinem Schuppendach.

Wieder nichts.

Enttäuscht griff ich zum Tuch, um die Arbeit zu beenden. Zu gerne hätte ich gewusst, was mein Herz für den Bruchteil einer Sekunde so in Aufregung versetzt hatte.
„Als wäre es zum Schwingen gebracht worden“, überlegte ich. In meiner Brust hatte es kurzzeitig richtiggehend vibriert.

Wann hatte ich das letzte Mal etwas in dieser Art gefühlt? Warum konnte ich mich an keine einzige Situation mehr erinnern, die mich in ähnlicher Weise berührt hatte?

Natürlich hatte es Situationen gegeben, in denen ich gelacht oder geweint, mich gefreut oder geärgert hatte, aber ich war auf seltsame Weise distanziert dabei gewesen. Ich hatte mir nichts zu Herzen gehen lassen. Mir wurde bewusst, dass ich mein Herz in den letzten Monaten weggesperrt hatte.

Diese Erkenntnis ließ mich nochmals die Arbeit unterbrechen. Je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher konnte ich es spüren: ein Nichts. In meinem Inneren fühlte ich eine dumpfe Leere. Der Platz, den mein Herz mitsamt seinen Gefühlen einnehmen sollte, war verlassen.

Betroffen stützte ich mich am Fensterbrett ab und starrte in den winterlichen Garten.
Jetzt, da ich es mir bewusst gemacht hatte, konnte ich es nicht mehr ausblenden. Mein Körper fühlte sich wie ein Haus mit vielen, vielen Zimmern an. Sie alle hatten ihre Bestimmung, ihre Funktion. Aber der Mittelpunkt des Hauses, der Ort, wo normalerweise das Leben stattfindet, war verwaist. Ich hatte mein Herz in eine kleine Abstellkammer gesperrt. Hinter der verschlossenen Tür wartete es darauf, das Haus wiederbeleben zu dürfen.

Ohne den Blick von der Landschaft zu nehmen, ließ ich mich auf das Bett hinter mir sinken. Ich wusste, dass ich mich selbst durchschaut hatte. Vermutlich war das eine automatische Sicherheitsmaßnahme von mir gewesen. Ich hatte mich von meinen Emotionen regelrecht trennen müssen.
Aus Verantworung, um den Alltag der Familie zu schaukeln und zu funktionieren.
Aus Sorge, die kleinen Kinder mit meinen Gefühlen zu belasten.
Um stark zu sein für die anderen.
Aus Angst zu straucheln, zu fallen. In ein tiefes Loch zu stürzen.
Unbewusst hatte ich mein zerbrechliches Innerstes weggepackt. 

Es fiel mir schwer, mir selbst einzugestehen, dass ich in den letzten Monaten nicht gelebt hatte.

Tief einatmend stand ich auf und trat wieder ans Fenster. Und diesmal sah ich sie. Am geöffneten Fenster stand sie, den dicken grünen Stängel majestätisch in die Höhe gereckt. Die drei großen, roten Blüten versprühten Freude und Leben.

Eine Amaryllis.

Und mit ihr kam schlagartig die Erinnerung zurück, die ich vorher nicht hatte einfangen können: Die in goldenes Wachs getunkte Blumenzwiebel einer Amaryllis.

Es war der Tag deiner Beerdigung. Beim Abholen des Blumenschmucks für das Grab war sie mir ins Auge gestochen. Es war, als ob du sie mir gezeigt hättest. Das strahlende Gold und das zarte Grün des Triebes waren wie ein Versprechen gewesen, dass es nach diesem schweren Tag auch wieder hellere Zeiten geben würde. Ich zögerte keine Sekunde, sie zu kaufen.

Tag für Tag hatte ich die Stärke bewundert, die in dieser faustgroßen Zwiebel schlummerte, mit der sie ganz ohne Wasser fünf prachtvolle Blüten hervorbrachte.
Tag für Tag hatte sie mir auf ihre eigene Art und Weise Kraft gegeben, mich von dir zu verabschieden.

Zu gerne möchte ich glauben, dass du mir mit der Amaryllis ein Zeichen geschickt hattest. Einen Wegweiser, um zurück zu meinem Leben zu finden. Denn mir war nun klar, was ich zu tun hatte.

 

Noch einmal atmete ich tief ein und aus. Ich schloss die Augen, richtete den Blick in mich und stellte mir mein inneres Haus vor. Langsam tastete ich mich von Zimmer zu Zimmer bis in das unbelebte Zentrum vor und fühlte die graue Leere um mich herum. Zögernd ging ich weiter zu der kleinen, unscheinbaren Tür der Abstellkammer und legte meine Hand auf das dunkle Holz. Eine unbändige Kraft schien dahinter zu pulsieren.

Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür.
Eine orangegelbe Energie drängte sich so machtvoll hindurch, dass die Mauer über der Tür aufriss. Der Spalt dehnte sich aus und mit einer gigantischen Explosion stürmten die befreiten Gefühle auf mich ein.

 

Der Schmerz, der plötzlich durch meine Brust hindurchfuhr, war von solcher Intensität, dass ich dachte, es würde mich von innen heraus verbrennen. Ich hörte mich selbst aufkeuchen, meine Beine gaben unter mir nach und ich sackte auf den Boden, wo ich mich hilflos zusammenkrümmte.

Ich weiß nicht, wie lange ich diese Qual aushalten musste. Jeder einzelne Moment der unterdrückten Trauer, jeder noch so kleine Augenblick des Verlustes stürzte in dieser Sekunde ungebremst auf mich ein. „So fühlt es sich an, wenn einem das Herz zerreißt“, war mein einziger Gedanke.

Dann wurde es langsam still in mir. Mein Atem floss wieder ruhiger und eine Welle der Erleichterung erfasste mich. Ich hatte überlebt. 

Ein weiter Weg lag vor mir. Aber ich wusste, dass ich ihn bewältigen konnte. Mein Herz würde heilen, denn wo es Schmerz gibt, existiert auch Glück.

 

Umständlich rappelte ich mich hoch und öffnete das Fenster. Die kalte Luft trocknete meine feuchte Stirn und die Tränen, während ich gierig einatmete. Ich fühlte mich frei und stärker als je zuvor.
Von gegenüber nickte mir freundlich die leuchtend rote Amaryllis zu.

Version 3