Von Uta Lemke

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“
Die adventlichen Gesänge des probenden Kinderchors dringen durch mein gekipptes Küchenfenster. Ich erstarre, den Schneebesen in der rechten Hand, die Schüssel mit Plätzchenteig in der linken. Jede Zelle meines Körpers steht still. Mein Atem stockt.
Genauso schnell, wie der Moment gekommen ist, ist er auch wieder vorbei. Mit zittrigen Händen stelle ich Schneebesen und Schüssel auf der Arbeitsfläche ab und lehne mich mit den Händen auf die kalte Granitoberfläche.
„Macht hoch die Tür“. Worte schwirren durch meinen Kopf, Worte, die ich schon viel zu lange nicht mehr gehört habe, sie bohren sich durch meine Schädeldecke und tiefer, tiefer, bis sie in meinem Herz ankommen und ich einen herrlich scharfen Schmerz verspüre. „Mama“, flüstere ich und sinke auf den Küchenboden.

„Versprich mir nur eins, Cassie, meine Liebe.“ Sie liegt in ihrem Krankenbett, den bleichen Kopf auf ein hartes, kaltes, klinisches Kissen gebettet. Ihre Stimme ist kaum hörbar, kaum mehr als ein Windhauch. Ich sehe mich neben ihrem Bett sitzen, Klein-Cassie, nicht einmal zehn Jahre alt und bald wird sie den schlimmsten Schmerz ihres kurzen Lebens erfahren. Sorgenvoll blicke ich auf die Szene, sehe die jüngere Version meiner Selbst vorsichtig und bedächtig die Hand ihrer sterbenden Mutter ergreifen und leise fragen: „Was denn?“
„Versprich mir“, fährt meine Mutter fort, „dass du die Tür deines Herzens nicht verschließt. Dass du dich nicht vom Schmerz unterkriegen lässt. Dein Leben endet nicht hier und jetzt. Dein Leben geht weiter. Aber nicht, wenn du vor lauter Trauer und Schmerz und Angst dein Selbst hinter hohen Mauern einschließt und niemanden mehr hindurchlässt.
Ich sage dir nicht, dass du nicht trauern darfst. Deine Schmerzen werden unfassbar groß sein und es tut mir leid, es tut mir so unendlich leid, dass ich nicht da sein werde, um sie zu lindern. Du musst von nun an alleine weitergehen.
Aber ich weiß, dass du es schaffen kannst. Ich weiß, dass du stark bist und du wirst noch viel stärker sein, wenn du hier raus kommst. Halt nur die Türen deines Herzens offen. Lass die Menschen um dich herum hinein, lass sie dir helfen. Bitte versprich mir das.“
Und Klein-Cassie starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an und will sagen: „Ja, Mama, ich verspreche es dir.“, aber kein Ton kommt heraus und sie sieht hilflos zu, wie die Augen ihrer Mutter sich für immer schließen.

„Ich verspreche es dir, Mama.“, sagt die Präsensversion meiner selbst währenddessen, immer noch auf dem kalten Küchenboden sitzend. Heiße Tränen strömen über meine Wangen und bilden kleine Pfützen zu meinen Füßen.
Sie hat ja Recht. Sie hatte ja immer Recht. Nur mit einer Sache nicht: Ich bin nicht stark. Über ein Jahrzehnt ist es her und ich habe seitdem nicht eine einzige tiefergehende Freundschaft geschlossen. Ich habe mich eingeigelt, habe mich in der hintersten Ecke meines Lebens verkrochen und gehofft, dass mich niemand entdeckt. Ich habe mein Herz nicht nur nicht geöffnet, ich habe die Türen mit zentnerschweren Eichenbalken verrammelt und verriegelt. Damit nie wieder jemand so tief in mein Herz kommen kann, damit nie wieder ein Ereignis mich so schwer treffen kann wie ihr Tod.
„Versprich mir, dass du die Tür deines Herzens nicht verschließt.“ Wie sehr habe ich sie nur enttäuscht. Ich hätte leben können, aber stattdessen habe ich vor mich hinvegetiert. Sie hat diese Chance des Lebens nicht mehr, für sie ist es vorbei, die Türen ihres Herzens sind für immer verschlossen und der Schlüssel liegt in den Tiefen des Meeres. Aber ich, ich habe noch eine Chance. Für mich ist das Leben noch nicht vorbei, mein Herz ist nicht unrettbar verloren.
Die Eichenbalken ächzen.

Und so kommt es, dass ich zwei Wochen später vor einer ganz anderen Tür stehe. Keine metaphorische, sondern eine erschreckend reale, die ich bis jetzt tunlichst vermieden habe.
Dahinter: Die Weihnachtsfeier meiner Firma. Jedes Jahr haben sie mich eingeladen und jedes Jahr habe ich abgelehnt, mit den Worten: „Nein danke, ich hab schon was vor.“, um mich dann wie jeden Abend auf meine Couch zu setzen und mit dem Schauen sinnloser Serien die Gedanken aus dem Kopf zu verjagen. Aber nicht dieses Jahr. Dieses Jahr ist anders.

Es ist still in dem Flur, in dem ich stehe, aber aus dem Raum hinter der Tür dringt leise, weihnachtliche Musik und das Gemurmel von sich angeregt unterhaltenden Menschen.
Ich treffe die längst überfällige Entscheidung und öffne die Tür.