Florian Ehrhardt

Müde blicke ich durch das Flugzeug, während die Stewardessen die immer gleichen Sicherheitsanweisungen abspulen. Um mich herum spielt sich das erwartete Chaos ab: Quengelnde Kinder, ältere Paare, die ganz sicher klatschen werden, wenn das Flugzeug landet und natürlich eine Schar von Abiturienten, die jetzt schon alle mindestens angetrunken sind und heute mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ins Meer kotzen werden. Ich schließe die Augen. Einatmen. Ausatmen. Es ist Zeit, aus dem Chaos heraus in einen Mittagsschlaf zu fliehen, aber keine zwei Sekunden später tippt mir das Chaos auf die Schulter.

Eine Frau Mitte 30 schaut mich mit ihren großen, braunen Augen fast schon flehentlich an: „Äh, entschuldigen Sie, aber wär’s vielleicht für Sie okay, mit dem Maxi hier Platz zu tauschen?“ Sie deutet auf Ihren Sohn, der kaum älter als sechs Jahre alt sein kann. „Der Maxi hat sich so aufs Fliegen gefreut und er wollte unbedingt einen Fensterplatz haben.“

„Nö!“

Die Frau blickt mich entrüstet an: „Was heißt hier Nö?! Wollen Sie etwa einem kleinen Jungen seinen Wunsch abschlagen?“

Ich versuche es mit Diplomatie: „Naja, dummerweise sitze ich schon und die Anschnallzeichen sind an, also bleibt es beim Nein.“

„Naja, aber die Anderen stehen doch auch noch?“ Sie deutet auf den älteren Herrn, der zwei Reihen weiter verzweifelt versucht, ein Kamerastativ in der Gepäckklappe zu verstauen.

„Ich sitze aber schon. Und ich sitze hier. Dabei bleibt es jetzt auch. Vielleicht haben Sie ja auf dem Rückflug Glück.“

„Du wirst sowieso nur schlafen!“, schaltet sich der Blondschopf ein.

Zum Glück hat seine Mutter jetzt erkannt, dass sie mich nicht umstimmen wird. Gut so. Immerhin habe ich fünf Euro Aufpreis für den Fensterplatz gezahlt. „Komm Maxi, ich les dir lieber etwas vor.“ Sie wirft mir einen bitterbösen Blick zu, bevor sie beginnt, ihr riesig anmutendes Handgepäck auf der Suche nach dem Vorlesebuch zu durchwühlen. Ich stecke demonstrativ meine Kopfhörer ins Ohr und lasse meinen Blick aus dem Fenster gleiten. Während das Flugzeug auf die Startbahn zurollt, beginnen meine Gedanken zu kreisen.

 

„Wie oft willst du noch um die halbe Welt fliegen, nur um sie für acht Stunden zu sehen?“

Ich sehe meinen Freund amüsiert an: „Ich bitte dich, München-Barcelona ist ein Kurzstreckenflug. Und außerdem…“ eine Welle der Traurigkeit überrollt mich.

„Außerdem was?“

Ich schlucke. „Außerdem sind es keine acht Stunden. Letztes Mal waren es acht Stunden und 34 Minuten. Mein Flieger war früher dran, weil…“

Steffen sieht mich besorgt an: „Tobi, wir kennen uns jetzt seit 17 Jahren. Seit mindestens 15 davon weiß ich ganz genau, wenn du mich anlügst. Was ist los?“

„Fabienne ist krank.“ Ich schlucke nochmal.

Steffen unternimmt einen Versuch, die Stimmung aufzulockern: „Klar, wer freiwillig mit dir zusammen ist, kann nur krank sein.“

Ich bringe nur ein freudloses Lachen heraus. „Nett, dass du es wenigstens versuchst, mich aufzumuntern. Aber es ist ernst. Mit krank meine ich todkrank.“

„Wie schlimm ist es?“ Steffen blickt mich erschüttert an.

„Was weiß ich. Ich studiere Jura, nicht Medizin. Aber die Ärzte sagen, dass Sie den Sommer ohne Spenderlunge kaum überleben wird.“

„Scheiße.“

„Jap.“

„Wann fliegst du wieder?“

„Übermorgen.“ Ich hole tief Luft.

„Alter. Scheiße. Viel Glück, Bruder.“

„Danke. Werde ich brauchen.“

Steffen blickt konsterniert auf sein Bier. „Prost.“

„Prost.“

 

Ich schrecke hoch. Verschlafen öffne ich die Augen, um unter mir das Mittelmeer glitzern zu sehen. Habe ich wirklich so lange gedöst? Erfrischt hat mich mein eineinhalbstündiger Powernap aber nicht. Wie denn auch? Ich bin seit Wochen dauerhaft übernächtigt.

„Klasse, wie viel Sie aus Ihrem Fensterplatz gemacht haben!“ Die ironische Bemerkung meiner Sitznachbarin lässt die letzten Erinnerungen an meinen Traum verschwinden.

„Wissen Sie…“, will ich beginnen, aber was würde das denn bringen? Ich wende mich müde von ihr ab und blicke auf die Schaumkronen der Wellen unter mir. Das Flugzeug setzt zur Landung an.

 

Früher ging es vom Flughafen immer mit dem Bus in die Innenstadt, direkt zu Fabiennes Wohnung. Jetzt sitze ich im Taxi auf dem Weg ins Krankenhaus.

„Deutschland, eh? Ich sprechen auch bisschen Deutsch!“

Toll. Ein gesprächiger Taxifahrer. „Ja.“

„Is schönes Land. Leider nix viel Sonne.“

„Hm-hmm…“

Endlich kapiert er, dass ich nicht mit ihm reden will. Dafür bekommt er sogar ein überdurchschnittliches Trinkgeld, als er mich vor dem Hospital de Catalunya rauslässt. Obwohl es hier an der Mittelmeerküste über 30 Grad hat, ist mir merkwürdig kalt. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Übelkeit überkommt mich. Ich will da nicht rein. Ich hole tief Luft und gehe durch die Drehtür.

 

Auf den Gängen des Krankenhauses ist es noch kälter. Ich habe eine Gänsehaut. Das blaue Linoleum quietscht unter meinen Sohlen und der Geruch des Desinfektionsmittels beißt in meiner Nase. Endlich bin ich bei Zimmer 3-A-418 angekommen.  Fabienne Garcia steht auf dem Namensschild. Seit dreieinhalb Wochen habe ich sie nicht mehr gesehen. Scheiß Prüfungsphase. Damals sah sie bis auf die Augenringe ganz gesund aus, aber auf den Fotos, die sie mir seitdem geschickt hat, ging es rapide bergab. Ich atme tief durch. Noch länger auf dem Gang rumzustehen wird mich in den Wahnsinn treiben. Also treffe ich die längst fällige Entscheidung und drücke die Türklinke herunter. Ich blicke direkt in meinen Albtraum.

Fabienne liegt einfach nur da. „Tobias?“

Ich liebe es, wenn sie meinen Namen sagt. „Ja, ich bin es.“ Es ist dämmrig und stickig im Raum. Gefühlt tausend Schläuche führen in sie herein und aus ihr heraus.

„Küss mich…“ Fabiennes Stimme ist nur ein Flüstern.

Ich liebe ihren Akzent immer noch. Aber ich hasse die Gestalt, die aus ihr geworden ist. Ich öffne den Vorhang und kippe das Fenster. Beuge mich herunter, um sie zu küssen. Zum ersten Mal überrollt mich dabei eine Welle des Ekels. Ihre Lippen fühlen sich faul und schlaff an. Ich ziehe zurück, als ihre trockene Zunge versucht, meine zu finden. Tango ist tot.

Sie öffnet die Augen und blickt mich verzweifelt an.

Ich kann ihr das nicht antun. Ich schließe die Augen. Beuge mich langsam über sie. Meine Hand findet den Weg an den Schläuchen vorbei zu ihrem Rücken und hilft ihr, sich langsam auf dem Bett zu setzen. Unsere Lippen finden sich. Diesmal kann ich den Ekel überwinden. Irgendwo tief in meinem Gehirn löst die zarte Berührung etwas aus. Diesmal bin ich es, der die Zunge nach vorne schiebt. Ganz langsam kehren wir zu so etwas wie Normalität zurück.

„Ich liebe dich.“, flüstere ich ihr zu.

„Ich dich auch.“, flüstert sie zurück.

„Was sagen die Ärzte?“

„Musst du diesen Moment zerstören?“ Tränen füllen ihre Augen.

Ein unglaubliches Gefühl der Hilflosigkeit überkommt mich.

Fabienne sieht mich wieder böse an. „Zwei Wochen noch. Bestenfalls. Sie werden keinen Spender finden. Bald bist du mich los.“

„Fabienne…“

„Und bevor du wieder anfängst, deine Macho-Sprüche rauszuhauen: Nein, einer deiner Lungenflügel würde mich auch nicht retten! Dann wären wir beide tot!“

„Ich…das habe ich doch gar nicht gesagt…“

„Du hast es aber gedacht.“ Sie blickt mich trotzig an.

„Vielleicht. Aber doch nur, weil ich noch dieses eine Fünkchen Hoffnung hatte…“

„Für mich gibt es keine Hoffnung mehr! Ich bin eine lebende Leiche!“

„Nein! Du…“

„Glaubst du, ich merke nicht, wie du dich vor mir ekelst?“

„Ich…“

„Du willst keine lebende Leiche zur Freundin haben! Du hasst mich!“

„Aber Fabienne…“

Sie sitzt jetzt kerzengerade da und blickt mich an: „Verschwinde.“

„Ich bleib bei dir…“

„Bis wann? Bis ich hier verrecke? Hast du schon eine Neue? Lacht ihr gemeinsam über mich?“

„Ich würde nie…“

„Ein Monat Prüfungsphase? Das soll ich dir glauben?!“

„Baby…“

„Komm mir nicht so! RAUS! Lágarte!“ Ihre Hand schwebt über dem Klingelknopf für die Krankenschwester.

Ich ertrage es nicht mehr. Ich werfe einen letzten, stummen Blick auf sie und verlasse ihr Zimmer. Wie betäubt taumele ich durch die Gänge zurück, um schließlich im Fahrstuhl zusammenzusacken. Tränen schießen mir in die Augen. Ich bekomme keine Luft mehr.
„Wie lange fühlt es sich wohl für Fabienne schon so an?“, fragt die boshafte Stimme in meinem Kopf.
Ich muss hier raus. Weg von dem Sterben und der Verwesung. Schnell. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen, während ich auf den Ausgang zu renne.

 

„Du musst stark sein, wenn der Tag kommt.“, hat Mama mal zu mir gesagt. Jetzt ist der Tag gekommen. Ungläubig starre ich auf das Loch im Boden. Ist das alles, was am Ende von uns bleibt? Die Sonne knallt mir mit voller Wucht auf den Kopf. Jetzt ist er da, der Sommer, den wir gemeinsam verbringen wollten. Aber das Leben hat oft andere Pläne.

Maria legt mir ihre Hand auf die Schulter. „Glaubst du, er hat es mit Absicht getan?“

Ich wirbele herum. „Maria, ich…“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Erstmal atme ich tief durch. Spüre, wie der Sauerstoff meine Lunge füllt. Seine Lunge. „Ich weiß es nicht, Maria. Ich habe keine Ahnung, ob man so etwas planen kann. Er kann doch gar nicht gewusst haben, dass der Laster da draußen mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs sein würde, oder?“

„Aber Fabienne, sein Organspendeausweis…“

„Seine Augen haben einem kleinen Mädchen geholfen, wieder zu sehen.“

„Lenk nicht ab.“

„Muss das hier sein? Direkt vor seiner Beerdigung?“ Ich blicke Maria böse an.

Meine beste Freundin findet plötzlich ihre Schnürsenkel sehr interessant.

„Maria, ich weiß wirklich nicht, was er wollte, aber er hat mich gerettet.“ Zumindest für ein paar Jahre. Die Wenigsten erleben nach der OP noch mehr als zehn Geburtstage. Aber das erfährt Maria nicht. Zumindest nicht von mir.

„Du musst weiterleben. Sonst wäre sein Opfer umsonst.“

Ich beiße mir auf die Lippen. Unterdrücke einen neuen Schwall von Tränen. „Ich liebe ihn immer noch.“

„Ich weiß.“

Sie weiß gar nichts, aber auch das erfährt sie nicht von mir. Genauso wie niemand von dem Buch erfahren wird, dass ich für ihn schreibe. Über unsere Liebe. „Hilf mir, das heute durchzustehen.“

„Natürlich.“

„Danke.“ Ich schließe die Augen. Einatmen. Ausatmen.

 

 

Für Ece.