Juliane Soain

Was ist das für ein Lärm? Jim kann seinen Augen kaum trauen. Warum passiert das, gerade mit diesem Schaf?

„Verdammt, welcher Schwachkopf, hat denn dieses Regal überm Bett angebaut“, ertönt es in Jims Apartment, als er aus dem Schlaf gerissen wird.

Mein Kopf dröhnt. Erst 1 Uhr in der Nacht. Bin doch erst vor zwei Stunden ins Bett oder war es später?

Als Jim versucht, sein Telefon zu erwischen, fliegt es auf den Boden. Alle Versuche seinerseits, es in seinem Hochfloorteppich wiederzufinden, laufen ins Leere. Es gleitet immer weiter in die Klauen des Floors. Was für ein hartnäckiger Anrufer! Unermüdlich spielt die Melodie, die Schädel platzen lässt, weiter. Vermutlich hat Jim nicht viel Zeit, bis dieser Fall eintritt. Völlig resigniert lässt er sich ins Bett fallen. Alles dreht sich.

Verdammt, der Mistkerl gibt nicht auf.

Da Jim noch weiterleben will, tastet seine Hand nach dem Lichtschalter. Als er ihn endlich findet, bereut Jim sogleich, ihn betätigt zu haben. In die pralle Mittagssonne zu starren ist bei Weitem angenehmer, als die stechenden Lichtstrahlen dieser Zimmerlampe ins Auge zu bekommen.

Aber was solls. Zumindest kann Jim am Leben bleiben, wenn er das Telefon findet.

„Kommissar Jim Punowski.“

Eine unverkennbare Stimme schneidet sich durch Jims Hirn: „Punowski, du Arsch. Hör auf, die Rufbereitschaft zu übernehmen, wenn du dir abends einen reinsäufst.“

„Jaja, du mich auch Sinatzki.“

„Seit 5 Minuten lass ich es bereits klingeln. Hättest du nicht diese besondere Fähigkeit, hätte ich dich schon längst persönlich, im hohen Bogen, rausgeworfen.“

Von den Nebenwirkungen geplagt, fällt Jim die Antwort schwer: „Komm zum Punkt.“

„Hast einen Einsatz. Ich will dich in 20 Minuten, in der Marktallee auf der Kreuzung sehen. Riesenscheiße hier…“

Bevor Jim sein Schädel wirklich noch platzt, beschließt er aufzulegen. Wohlwissend, dass es für ihn Konsequenzen haben wird, wenn er seinen Chef abwürgt.

Den Anschiss bekomme ich sowieso.

 

 

 „Das ist der bereits vierte Absturz eines AS-200 diese Woche. Um Mitternacht fiel, laut Augenzeugen, der Gleiter von Stingtec, wie ein Stein vom Himmel und zerschellte auf der stark befahrenen Kreuzung, vor der Markthalle. Meine Damen und Herren, Unvorstellbares spiel sich hier gerade ab. Viele Menschen sind noch in den Autowracks eingeklemmt. Die Feuerwehr versucht, sie aus den Autos zu schneiden. Überall liegen die Wrackteile des Gleiters. Anliegende Gebäude wurden zum Teil leicht beschädigt. Live vom Unfallort spricht Anna Knatzki von Kanal 3.“

Während Jim sich die hübsche Anna noch fasziniert anschaut, schreit die schrille Stimme vom Telefon über den Platz: „Punowski! Wurde ja auch mal Zeit.“

Jim will nicht schreien und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu Sinatzki zu gehen. „Musste das Fahrrad nehmen.“

Mit einer Handbewegung deutet Sinatzki auf den zerschellten Gleiter, doch bevor er etwas sagen kann, kommt ihm Jim zuvor: „Die Presse hat mir schon ein Update verpasst.“

„Der vierte Fall also.“

„Ja, diese Dinger werden langsam lästig. Wir haben bereits 40 Tote gezählt. Weitere 35 sind in ihren Fahrzeugen eingequetscht.“

„Was ist mit den Piloten?“

„Wir versuchen uns gerade, durch die Außenhülle zu schneiden. Die sind von mindestens 900 Metern abgestürzt. Der Bereich der Brücke ist stark deformiert. Denke nicht, dass sie es geschafft haben.“

„Was ist bloß mit diesen Dingern los?“

Nachdenklich schaut Jim über den Platz, berührt ein Wrackstück, schließt die Augen und schwimmt durch den verblassten Zeitstrahl, bis er im Gleiter neben den Piloten steht.

 „Benni, irgendwas stimmt hier nicht.“

Durch nervöses Klopfen auf den Anzeigen versucht Jenni zu prüfen, was die Fehlerursache ist.

Noch bevor sie das Problem identifizieren kann, spüren die Beiden, wie ihr Gleiter der Schwerkraft nichts mehr entgegensetzen kann und wie ein Stein zu Boden sackt.

Panisch rüttelt Benni an ihrer Schulter. Immer wieder schreit er sie an: “Druckabfall auf allen Düsen.“

Ausfallsichere Systeme haben sie gesagt.

Nach mehreren Versuchen erwacht Jenni endlich aus ihrer Fassungslosigkeit.

Sofort fängt sie an, Knöpfen zu drehen und Hebel zu betätigen: „Initiiere Neustart des Antriebssystems. Benni, geh Protokoll 3A12 durch.“

Adrenalin rauscht durch ihre Adern, während sie mit Hochdruck versucht die Schubdüsen wieder zur Mitarbeit zu überzeugen.

Nur scheinen sie einen eigenen Willen zu haben und so macht sich Verzweiflung in Jenni breit: „Verdammt, spring schon an, du Blechkiste“, schlägt sie mit der Faust, auf die Schubkontrolle.

Als sie mitbekommt, dass Benni nur seine Hand auf der Konsole liegen hat, wird sie wütend: „Verdammt du Idiot, befolg das Protokoll!“

Doch Benni starrt nur aus dem Cockpit.

Scheiß auf Benni! Bloß nicht aufgeben. Nicht heute!

Nachdem Jenni einige weitere Hebel umgelegt hat, heulen die Schubdüsen wieder auf. „Jawohl, sie laufen wieder! Ich hab dir doch gesagt, dass ich es schaffe.“

Während die Schubdüsen mit der Schwerkraft kämpfen, dreht sich Jenni überglücklich zu ihm.

Doch Benni starrt nur aus dem Cockpit.

„Schwesterherz? Wann habe ich dir das letzte Mal gesagt, dass ich dich liebe?“

Auf einmal wird seine Konzentration gestört. Etwas reißt Jim regelrecht aus dem Zeitstrahl heraus.

„Whoa, Madam, sie dürfen hier nicht herein“, hält ein Polizist eine Frau fest.

„Herr Kommissar. Bitte.“

Grinsend gibt Sinatzki mit einer Handbewegung zu erkennen, dass Jim sich um die Frau kümmern soll.

Augenrollend geht Jim hinters Absperrband. Auf so einen Scheiß hab ich mal gar keine Lust.

Da Jim den Polizisten nicht kennt, aber alle ein Namensschild tragen, reicht ein kurzer Blick aus: „ Knatz, lass die Dame los. Ich kümmere mich um sie.“

Widerstandslos leistet der Kollege dem Befehl folge.

„Madam, bitte beruhigen Sie sich.“

Angst steht in ihr Gesicht geschrieben: „Meine Kinder sind in so einer Todesmaschine unterwegs gewesen. Wie soll ich mich da beruhigen?“

„Haben Sie schon die Piloten gefunden?“

„Es gibt noch keine Erkenntnisse. Ich werde mir gleich den Unfallort ansehen und kann dann vielleicht schlauer sein als vorher. Bitte gedulden Sie sich.“

Möglichst schnell versucht Jim wieder, hinter die Absperrung zu gelangen. Er hasst es, Gespräche mit Verwandten zu führen.

Als er sich wieder umdreht, hält Knatz erneut die Frau fest.

„Madam, es hat keinen Sinn.“

„Aber es sind doch meine Kinder.“ Sie versucht, aus dem Griff des Polizisten zu entkommen, doch ist zu schwach dafür. Einen Moment später sackt sie in sich zusammen. Tränen laufen an ihren Wangen herunter. Ihr Schluchzen reiht sich perfekt ins Gesamtbild ein.

Währen Jim sich eine Zigarette ansteckt und sich umschaut, prallt auf ihn die Angst der Menschen, das Chaos vor Ort und das Geschrei der Verletzen ein. Blaulicht verleiht dem Schauplatz eine besondere Atmosphäre. Jede Sekunde, immer wieder neu, in der er erleuchtet wird. Er schaut sich so lange um, bis ihm etwas ins Auge fällt und legt seinen Koop auf die Seite.

Die Luke unterm Gleiter, ist sie etwa offen?

Stöhnend kniet sich Jim hin und schaut nach. Sein Blick richtet sich auf die austretenden Tropfen. Wie in Zeitlupe tropfen sie von der Decke und vereinen sich mit der Pfütze auf dem Asphalt. Das farbliche Schimmern erinnert ihn an etwas. Als Jim bewusst wird, was da für eine hochentzündliche Flüssigkeit austritt, ist es bereits zu spät: „Ach, du Scheiße.“

 

 

Jim sitzt eine gefühlte Ewigkeit in diesem Raum. Sein Blick weicht nicht von den Türen. Egal ob er steht oder sitzt. Hat viele Menschen durch die Türen gehen sehen. Auch sie standen davor und waren verwirrt. Sind dann aber durch irgendeine gegangen.

„Was gibt es denn da zu sehen?“, fragt eine neugierige Stimme.

 „Türen.“ Jim erhofft sich mit dieser langweiligen Antwort, dass ihn die Person einfach in Ruhe nachdenken lässt.

Doch die Person lässt nicht locker: „Welche Türen? Ich habe dich beobachtet. Du starrst schon lange ins Nichts.“

Also bleibt Jim leider nichts anderes übrig, als den Blick von den Türen abzuwenden.

Überrascht schaut er die Frau an: „Du bist doch die von der anderen Seite des Absperrbandes.“

„Ja, genau. Ich bin Sandra.“

Sie lächelt ihn an, doch Jim ist ein harter Brocken. „Interessiert mich nicht“, und widmet sich wieder seiner Tür.

„Na gut, dann schaue ich mich hier mal um.“

Endlich kann sich Jim wieder dem Nachdenken widmen.

Wo führen sie hin?

Was ist dahinter?

Was ist, wenn ich die Falsche nehme?

Gibt es eine falsche Tür?

Sind die Türen real?

Kann ich durch alle Vier auf einmal gehen?

Fragen über Fragen. Je länger Jim nachdenkt, desto wirrer wird alles. Wer denkt sich bloß so eine unlösbare Aufgabe aus?

„Entschuldigung“, wirft ihn jemand wieder aus seinen Gedanken.

Leicht genervt darüber, dass man selbst im Nichts nicht in Ruhe nachdenken kann: „Was gibt es denn?“

„Meine Schwester und ich haben uns verlaufen.“

„Benni und Jenni, seid ihr es?“, ruft eine Stimme aus der Ferne.

„Mama. Was machst du denn hier?“

Nachdem sich die Drei ordentlich begrüßt haben, diskutieren sie wild umher.

„Hat man denn nicht einmal hier seine Ruhe?“, schreit Jim los.

Doch schon im nächsten Augenblick dämmert es ihm.

4 Türen! Benni! Jenni! Jim! Sandra!

Sein Zeigefinger richtet sich auf die Türen: „Seht ihr sie nicht?“

Nachdem sich ihre Blicke zu den Türen wenden, werden sie langsam sichtbar.

„Doch da erscheint etwas!“

Neugierig fragt Sandra in die Runde: „Was da wohl dahinter ist?“

„Ach was solls, lasst es uns doch herausfinden!“

Zärtlich berührt Sandra seine Hand und zieht ihn mit. Durch irgendwas Unbeschreibliches fühlt Jim sich mitgerissen. Seine Bedenken sind nun verflogen. Jenni und Benni gesellen sich auf die andere Seite dazu. Sie stehen nun Hand in Hand vor den Türen. Ihre Herzen klopfen wie verrückt. So laut, dass sie die Stille übertönen. Gemeinsam treten sie einen Schritt vor. Die Türen beginnen zu flackern. Ein weiterer gemeinsamer Schritt und die Tür transformiert zu einem Tor. Nur noch ein Schritt, dann erfahren sie, was auf der anderen Seite ist. Die längst überfällige Entscheidung, die Schwelle zu übertreten, zaubert Jim ein Lächeln aufs Gesicht.

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