Eva Fischer

Das Gesicht auf dem weißen Kopfkissen ist blass. Es ist klein und schmal geworden mit der Zeit. Die Nase ist spitz, der Mund leicht geöffnet, die Augenlider flattern. Die Bettdecke hebt und senkt sich. Noch ist Leben in dem  fragilen Körper.

 

Als ich dir das erste Mal begegnete, warst du eher mollig. Du trugst eine bunte Küchenschürze. Für deinen Sohn und mich hattest du einen Kuchen gebacken. „Bring keine Blumen mit“, sagte mein späterer Mann. „Meine Mutter hält dich sonst für eine Verschwenderin.“

Es war mir ein Leben lang peinlich, dass ich seinen Rat befolgte.

 

„Schau Frieda, ich habe dir Blumen mitgebracht. Keine Astern. Todesblumen hast du sie genannt und nie gemocht. Christrosen. Nur die blühen im Winter. Das schlimmste am Tod ist doch diese eisige Kälte!“

 

Mit 53 wurdest du Witwe. Am Grab weintest du keine Tränen. Ich war erschüttert. Erst später begriff ich, dass Trauer für dich kein Akt in der Öffentlichkeit ist. Jahrzehntelang hast du die Familie zum Todestag deines Mannes ins Restaurant eingeladen. „Ich kann nicht allein sein an diesem Tag“, hast du mir mal gestanden. Nein, der Verlust deines Mannes war nicht leicht für dich. Aber es galt immer Haltung zu bewahren. 

 

Noch vor wenigen Wochen hast du uns jeden Sonntag im Seniorenzentrum in deinem Sessel erwartet. Die Frisörin hat am Vortag deine schlohweißen Haare gerichtet. Du trugst schicke Sonntagskleidung mit einer farblich abgestimmten Kette. Wie Queen Elisabeth II hast du uns Audienz gewährt. Aktuelle Politik interessierte dich eher als rührselige Geschichten aus der Vergangenheit. Mit Zeitungslesen hast du deine grauen Hirnzellen fit gehalten. Du warst eine treue Sozialdemokratin, hast nie deine Arbeiterwurzeln verleugnet. Wohlstand musste erarbeitet werden und verpflichtete. Nur dann verdiente er deinen Respekt. 

 

Ja, du warst ehrgeizig. Die Kinder sollten auf das Gymnasium und studieren können, was dir verwehrt gewesen ist. Da musste der Gürtel eben mal eine Zeit lang enger geschnallt werden. Leistung, gute Noten, Karriere verdienten stets dein Lob und deine Bewunderung.

 

Nichts zählte mehr als die Feste mit der Familie. Deine Schwarzwälderkirschtorte war legendär. Meine Kuchen missrieten immer, wenn dein Besuch bevorstand, bis ich resignierte und dein Angebot annahm, mir einen Kuchen zu backen. 

Weihnachten, Geburtstage, alles wurde groß gefeiert. Zum Mittagessen gab es Braten, Gemüse der Saison, Kartoffeln und Sauce mit Ausrufezeichen, wenn du sie auf den weiß gedeckten Tisch stelltest. Danach brauchte man schon mal ein Verdauungsschnäpschen.

  

Freundschaften konnten vergehen. Familie niemals! Auf deinem Fenstersims schauen mich  deine Kinder, Enkel und Urenkel auf den Fotos an.

 

Du lebtest sparsam, aber wenn es um Reisen ging, gabst du gern Geld aus.

Mit einem VW Käfer fuhrt ihr als vierköpfige Familie in den 60er Jahren nach Kärnten und Italien. Es sollte immer nach Süden gehen, der Sonne entgegen. Du bist ein Sommerkind, im Sommer geboren. Deine Geburtstage wurden im Garten unter einem Kirschbaum gefeiert. Dein selbst gebackener Kuchen duftete. Dein Gesicht strahlte, wenn alle um den Tisch vereint waren.

 

Dein Mann bestieg kein Flugzeug.  Nach seinem Tod begannst du, dir die Welt anzusehen. Russland, China, Südamerika, Afrika… Wie ein Kind, das sich auf Weihnachten freut, fiebertest du deinen Jahresreisen entgegen. Keine körperliche Anstrengung war dir zu groß bis ins hohe Alter.

„Wenn ich die Orte im Fernsehen sehe, dann bin ich froh, dass ich dort gewesen bin“, hast du mir immer wieder beteuert.

Menschen bereuen am Ende das, was sie nicht gemacht haben und selten das, was sie gemacht haben.

 

Ich öffne meine Handtasche, will mir ein Taschentuch herausholen und stoße auf mein ledernes Adressbuch, das auf wundersame Weise das Handyzeitalter überlebt hat. Manche Adress-Eigentümer sind in meiner Erinnerung vergilbt, andere gestorben. Alle Adressen habe ich handschriftlich eingetragen, nur eine nicht. Vladimir steht da in großen schwarzen Lettern. Die Telefonnummer schlängelt sich über die ganze Seite.

 

Wie lange ist es her, dass ich Vladimir in Berlin auf dem Flughafen getroffen habe? Ich wartete auf meine Maschine nach Düsseldorf, er auf seine nach Moskau. Manchmal ist es federleicht, mit Fremden in der Fremde ins Gespräch zu kommen. Wir erzählten uns Episoden aus unserem Leben, als wären wir Kindheitsfreunde. Fasziniert lauschte ich seinen Geschichten über Russland. Er sprach von  Putin seinem Namensvetter. „Wir Russen sind an einen Zaren gewöhnt. Das versteht ihr im Westen nicht.“ Er lächelte nachsichtig. „Pannen machen uns erfinderisch. Wir sind Menschen, die gern singen und lachen, auch mal weinen können, die zwar zu viel trinken, aber unser Herz hört nicht auf zu schlagen. Selbst Eiseskälte überstehen wir. Unser Blick hört nicht am Horizont auf, sondern wir schauen in die eigene Seele und die des anderen.“  

 

Es ist ganz still im Raum.

Lebwohl, Frieda! Sterben muss der Mensch alleine, hast du immer gesagt.

In Moskau sind es jetzt Minus 17 Grad.

Ich starre auf die Zahlen von Vladimirs Telefonnummer. Dahinter tauchen die Romanhelden der russischen Autoren auf, ihr täglicher Kampf ums Überleben. Iwan, der Schreckliche, die Zarenherrschaft, der vergebliche Versuch eines Napoleon oder Hitler, sich dieses Land untertan zu machen. Der Archipel Gulag neben dem Zuckerbäckerstil… 

 

Ich treffe die längst fällige Entscheidung und öffne die Tür.

 

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