Von Hans-Günter Falter

Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung, öffnete die Tür und ging. Sophie schlief noch und ich wollte sie auf gar keinen Fall wecken, wollte nicht wieder mit ihr streiten, sondern mich still verabschieden. Unsere Beziehung war, unrettbar, am Ende, obwohl doch alles so vielversprechend begonnen hatte, … daran erinnere ich mich noch sehr genau.

 

*

 

Viel lieber hatte ich in dem neuen Bio-Laden eingekauft. Dort gab es einen großen Parkplatz, der Verkaufsraum lud freundlich ein und das Warenangebot erschien vielfältiger. Ich glaube es war dort auch etwas günstiger, so vom Preis her, aber da bin ich mir gar nicht mehr so sicher.
Warum ich dann doch gewechselt habe? Ich erzähle es mal der Reihe nach.

Also, ich kaufte fast immer in dem größeren, neuen Geschäft, hauptsächlich wegen der Parkplätze, hatte ich mir zumindest eingebildet.
Tatsächlich arbeitete dort aber eine total nette, supersympathische junge Frau. Leider beachtete sie mich nie sonderlich, oder besser gesagt, sie hatte mich nie so beachtet, wie ich es ganz bestimmt verdient gehabt hätte. Obwohl ich praktisch jeden Apfel einzeln kaufte, behandelte sie mich genauso, wie jeden gewöhnlichen Kunden.
Sie war sehr freundlich und zugewandt, konnte auf jede Frage zu den Waren eine detaillierte Antwort geben. Aber scheinbar fiel ihr nie auf, dass ich andauernd da war und immer nur bei ihr bezahlen wollte …

Nein, nein, nein. So stimmt es nicht ganz. Aber ich will alles ehrlich erzählen.
In Wirklichkeit hatte ich es nämlich vermieden, allzu oft in ihrer Nähe zu sein, damit sie nicht das Gefühl bekommt, dass sie mich interessieren könnte. Ich hätte mir gewünscht, sie würde mir mal grundlos, einfach so, zulächeln. Hatte gehofft, es könnte sich mal ein Anlass ergeben, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es gab aber keine passende Gelegenheit und sie nahm mich nie so richtig wahr.
„Armer schwarzer Kater“, hätte meine Oma jetzt zu mir gesagt und mir dabei sanft über den Kopf gestrichen. Das vermisse ich so sehr, … mehr als ich beschreiben kann.
Na ja. Sie arbeitete jedenfalls auch nicht jeden Tag, hatte wohl nur eine Teilzeitstelle in diesem Betrieb. Irgendwann stellte ich frustriert fest, dass sie schon längere Zeit gar nicht mehr da war.

Ich hatte etwas in der Nähe des anderen, kleineren Geschäfts zu tun. Früher, bevor es den neuen, großen Laden gab, kaufte ich immer dort ein.
Er hatte eine sehr gemütliche und heimelige Ausstrahlung und meist war, auch damals schon, nicht sehr viel los. … und Parkplätze gab es halt einfach nicht, es war sehr schwierig sein Auto los zu werden und entsprechend mussten die Einkäufe dann ziemlich weit geschleppt werden. Ich glaube, hauptsächlich deshalb hatte dieser Laden sehr viele Kunden an den Neuen verloren und schließlich auch nach zwei oder drei Jahren endgültig zugemacht.
Was ich damit sagen will; ich war nur noch sehr selten dort, manchmal freitags, weil ich dann in der Nähe Termine hatte und weil meine angehimmelte Verkäuferin aus dem anderen Bio-Markt freitags sowieso nie arbeitete.
Direkt neben der Ladentür, die mit einem Bimmeln den Kunden ankündigte, wenn sie geöffnet wurde, entfaltete sich großzügig der Ost-und Gemüsebereich, dahinter gab es eine Brot- und Käsetheke, seitlich Regale mit allen möglichen anderen Waren. Oft war das Geschäft leer, wenn ich es betrat. Erst nach dem Klingeln kam dann jemand aus einem der hinteren Räume oder aus dem Lager.

*


Ein bisschen erinnerte mich die Atmosphäre an das erste Geschäft dieser Art, das ich vor vielen vielen Jahren in Köln kennengelernt hatte. Die angebotenen Waren waren alternativ und biologisch-dynamisch, die dort beschäftigten Leute waren es auf eine ganz besondere Weise auch.
Man betrat den Laden, … nach geraumer Zeit kam jemand aus einem hinteren Lager gemächlich angeschlurft.
In diesem Betrieb galten Gesetzmässigkeiten, die unvergleichlich waren und die ich, im Grunde, auch kannte. Und trotzdem staunte ich jedesmal aufs Neue darüber. 

„Wie kann ich dir helfen, was willst du haben?“ war meist die erste Frage, des schlaksigen Typen mit Latzhose und Rastalocken, der gerade ankam und jetzt relaxt hinter seinem Tresen stand.
„Bitte zwei Kilo Kartoffeln und ein Kilo Möhren.“
„Zwei Kilo Kartoffeln, … ein Kilo Möhren, … hol ich dir.“
Daraufhin schlurfte er in sein Lager zurück und blieb dort eine Ewigkeit verschwunden. Irgendwann hörte ich wieder diesen gemächlichen Trott und sah ihn zurückkommen. Er hatte eine Papiertüte in der Hand.
„Zwei Kilo Kartoffeln“, sagte er und legte die Tüte auf den Verkaufstisch, „was wolltest du sonst noch?, hab es vergessen.“
„Ein Kilo Karotten“, wiederholte ich.
„Ach ja, ein Kilo Karotten, bin gleich zurück.“
Wieder verschwand er schlurfend in dieser Katakombe, um nach einer weiteren endlosen Zeit erneut mit einer Papiertüte zu erscheinen.
Diese Einkäufe zehrten sehr an meiner Geduld, aber das Obst und Gemüse war einfach viel besser als das übliche Supermarktzeugs, das man sonst bekam, dafür nahm ich die langwierige Prozedur in Kauf. Wenn allerdings, was leider häufig vorkam, schon ein oder sogar mehrere andere Kunden im Laden waren, bin ich gar nicht erst reingegangen. Das war nur etwas für Masochisten.

*

Hier war es von der Atmosphäre also ähnlich, aber das Einkaufen war keinesfalls so nervenaufreibend, wie damals in Köln.
An diesem Tag schaute ich, wie immer, durch die Eingangstür des Ladens, bevor ich sie öffnete. Es bimmelte. Palim-Palim. Niemand war zu sehen.
Halblaut und eigentlich nur zu mir selbst sagte ich: „Hallo, ich bin´s, der Kunde.“
Jetzt bewegte sich eine Holzkiste hinter der Obst-und Gemüsetheke. Ich erschrak, vermutete irgendein Tier, das sich hierher verirrt hatte, vielleicht eine Katze. Langsam erhob sich dann aber eine Person. Es war ausgerechnet die Mitarbeiterin des anderen Ladens, die ich so verehrte und schon so lange nicht mehr gesehen hatte.
Ohne lange darüber nachzudenken, war mir sofort klar, dass sie ihre alte Stelle gekündigt haben musste und jetzt hier arbeitete. Deshalb konnte sie mir natürlich in den letzten Wochen, bei meinen Einkäufen, nicht mehr begegnen.
Sie hob den Kopf und entgegnete: „Oh, wie schön, wir warten schon den ganzen Tag auf unseren Kunden, endlich ist er da, ich hole gleich mal die Kollegen.“ Sie tat so, als wollte sie losgehen, hielt dann aber inne und schaute mich herausfordernd an. Es war mir unendlich peinlich und ich wäre am liebsten gleich wieder gegangen. Diese Blöße wollte ich mir aber nicht geben, also versuchte ich abzulenken und fragte, welches Gemüse sie mir den heute empfehlen könne.
„Kommt darauf an, was der Kunde kochen möchte“, spöttelte sie und es war mir schon wieder total peinlich. Es schien als würde die Röte aus meinem Gesicht heute nicht mehr verschwinden wollen.
„Vielleicht Tomaten?“, grinste sie mich an „farblich passend zu den Ohren des Kunden.“
Ich tat so, als hätte ich das überhört und würde noch überlegen, was aber gar nicht möglich war, weil das Blut in einer unglaublichen Geschwindigkeit und mit viel Getöse durch meinen Schädel rauschte und jeden Gedanken übertönte.
„Ich überlege noch mal“, sagte ich und wandte mich schnell ab, in Richtung eines Regals, hinter dem ich mich vorerst verstecken konnte, um erst einmal wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich griff eine Dose Tomatenmark, die zufälligerweise direkt vor mir stand, und las die Zutatenliste, die auf der Rückseite stand, um mich abzulenken und als Alibi, falls mich jemand beobachten sollte.
Die Zutatenliste ist mir noch lange, sehr intensiv, im Gedächtnis geblieben, beruhigt hatte ich mich aber praktisch gar nicht. Mein Herz schlug unentwegt laut und hochtourig. Meine Gedanken kreisten sinnlos um das blöde Tomatenmark, sie waren nicht unter Kontrolle zu bekommen.
Ich nahm die Dose und wollte noch kurz ganz locker, wie selbstverständlich, an den anderen Regalen vorbeischlendern, um nicht aufzufallen und, um dann die Dose zu kaufen und schnell wieder zu verschwinden.
Meine ursprüngliche Einkaufsliste, wegen der ich ja in den Laden gekommen war, war aus meinem Hirn ausradiert, ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Das Einzige was in meinem Kopf brodelte war der Gedanke: Schnell raus hier – allergrößte Gefahr. 

An der Kasse sah ich die Verkäuferin dann wieder. Sie schien schon auf mich zu warten, und ich war auf neuerliche Sprüche und Provokationen eingestellt. Ich stellte die Dose auf das Kassenband. Sie sagte kein Wort, obwohl mein Großeinkauf und ganz besonders das Tomatenmark an sich, wunderbares Material für einige sarkastische Bemerkungen gewesen wäre.

Sie scannte die Dose und sagte mir den Preis. Ich holte mein Portemonnaie hervor. Noch bevor ich das Geld herausnehmen konnte, sagte sie zu mir: „Wir sollten zusammen einen Kaffee trinken gehen, geht es heute um 15.00 Uhr?, dann habe ich Feierabend.“ Ich war total überrascht und nickte nur kurz, während sie mich anlächelte und ich ihr das Geld gab.
„Café Kranz“, rief sie mir nach, als ich schon fast an der Tür war.

Pünktlich um 15.00 Uhr kam ich vor dem Café an, ich war etwas nervös, aber nicht so sehr, wie ich es mir in meiner Phantasie immer ausgemalt hatte. Sie kam fast gleichzeitig aus der anderen Richtung auf mich zu. Es war das erste Mal, dass ich sie nicht in Arbeitsklamotten, mit dunkelblauer Schürze und hochgekrempelten Ärmeln gesehen habe. Dieses Bild hatte sich so bei mir eingeprägt, dass sie mir jetzt völlig neu und irgendwie fremd aber doch auch gleichzeitig sehr vertraut erschien. 

Es war ein sehr warmer Sommertag. In dem Café war es aber trotzdem angenehm und nicht zu heiß, obwohl es ja früher Nachmittag war. Ich saß auf einem Stuhl vor einem kleinen Tisch, ihr direkt gegenüber. Hinter ihr gab ein großes Fenster den Blick in den Garten frei.
Ich war sehr von ihr fasziniert. Sie hatte eine sehr leichte Art, so leicht wie ihr durchscheinendes Sommerkleid, dass meine Phantasie anregte …