Von Bernd Kleber

Leben allein genügt nicht,

    sagte der Schmetterling.

         Sonnenschein, Freiheit

       und eine kleine Blume
         muss man auch haben.

(Hans Christian Andersen)

 

Grenzenlose Ungerechtigkeit

Der Falter ganz zartgezeichnet mit leuchtendem Blau auf gepudertem braunen Grund, wie ein Auge in einer imposant schwingenden Feder, erhob sich, flatterte zur nächsten Blüte und versenkte im Blütenkorb seinen Rüssel. Er sog süßen Blütensaft, schmatzte ein wenig, wenn man genau hinhörte. Unerwartet rauschten zwei große Fangarme vor, bewaffnet mit spitzen Dolchen, die sich tief in seinen Rumpf gruben, die Flügel zerschnitten, brachen und den Schmetterling-Körper in einem rasenden Tempo durch die Luft zogen. Der kleine Leib prallte gegen scharfe Fangzähne und ohne eine Pause, fingen die an, hastig zu nagen. Der Schöne war in Sekunden von der Gottesanbeterin aufgefressen.

Kai sah das alles und ein angewiderter Schauer überlief seinen Rücken, bevor er seinen Bruder Tim beobachtete, als der Kais Board in die Höhe warf. Schnell erhob er sich aus der Hocke und blickte ihm hinterher. Der Ältere lachte laut, hob seine rechte Faust, aus der ein Mittelfinger in den Himmel zeigte.

„Heul doch!“, rief Tim.

Kai rief seinem Bruder zu: „Tim, warum bist du so? Ich habe dir nichts getan!“.

Aber der lief und verschwand um die nächste Ecke.

 

Grenzenlose Wut

Nun sah er zu der Glasscheibe, die so hoch war, wie er selbst. Auf der anderen Seite erblickte er sein Skateboard hinter einem Grasbüschel, kaum zu erkennen. Nur wer genau hinsah, entdeckte es. Wie eine Rampe angelehnt. Kai weinte nun tatsächlich.

Wut kroch wie ein Drachen mit stampfenden Schritten in seinen Magen und von dort in den Bauch. Bei jedem Tritt krampfte sich sein Körper zusammen. Er schrie und trat gegen die Scheibe. Sein Bruder war weiter gegangen, ein Monster. Was sollte er tun? Er trampelte nochmals gegen das Sicherheitsglas und fluchte. Da griff ihn etwas fest am Kragen, er wurde kurz in die Luft gehoben. Ein Dunst nach altem Bier umwehte ihn. Kai hustete und zappelte. Der Kerl, der diesen Geruch verursachte, ließ ihn auf den Boden herunter, aber lockerte seinen Griff nicht.

„So junger Mann, so etwas können wir hier ja gar nicht gebrauchen. Komm mal schön mit. Ich bringe dich noch raus, aber dann lass´ dich hier nie wieder blicken.“

Kai protestierte, strampelte und ungeahnte Kräfte stiegen auf, die ihm nichts nutzten. „Mein Board! Mein Board!“

Da war er schon vor dem Eingang des Geländes und der Angestellte rief der Aufsicht zu: „Den lasst Ihr hier nicht mehr rein!“

Das Skate-Board war verloren.

 

Grenzenlose Kreativität

„Ey, hallo, hört zu! Wir brechen aus. Wir könnten tun und lassen was wir wollen, am anderen Ende der Wüste aus Stein liegt das Paradies. Glaubt mir! Ich sah es vom hohen Turm und kann es riechen. Dahin ziehen wir heute Nacht um.“

Sie redete und redete, alle Clanmitglieder saßen um den hohen Turm herum und horchten gebannt zu. Einige waren aufgeregt. Andere ungläubig. Aber solange sie, Lucia, es sagte, würden alle folgen.

Lucia teilte die Gruppe ein. Sie waren zehn Mitglieder. Der dicke Max sollte auf dem Turm Ausschau halten und pfeifen, sobald Gefahr drohen würde. Elsa würde ihn unterstützen und ihm Mut machen, wenn seine Angst vor Dunkelheit sich einstellen würde. David erhielt die Aufgabe, die Rampe zu stützen, sodass sie nicht wegrutschen könne. Erwin würde die Mütter so lange in der Gruppierung beruhigen, bis sie mit ihrem Nachwuchs an der Reihe waren. Der Plan stand.

„Besonders wichtig ist, wichtiger als sonst, denn es geht um Leben und Tod, dass ihr nur auf mein Kommando hört und erst geht oder rennt, wenn ich es sage! Prägt euch das ein!“

Lucia beugte sich nach vorn und blickte jedem eindringlich in die Augen. Ihre Nase wackelte vor Anspannung. Jeder nickte rasch, zu allem bereit.

Die Freiheit rief!

Die Nacht kam, die Chefin pfiff einmal kurz. Alle erhoben sich wie auf Kommando und guckten blinzelnd zu ihr hinüber. Sie lief los, lief schneller, sprang auf die Rampe und flog in hohem Bogen über die bisher unüberwindbare Grenze. Die Zurückgebliebenen schwiegen, sahen sich ratlos an und warteten wie auf ein Wunder. Dann ein heller Pfeifton, deutlich von der anderen Seite.

Es dauerte gar nicht lange. Alle ermutigten sich gegenseitig und flogen, segelten, übersprangen die Begrenzung. Nun war Max als Letzter an der Reihe. Er rief: „Ich komme!“ Dann nahm er Anlauf, rannte so schnell er konnte, sah auf die Schanze, wusste, dass er rechtzeitig abspringen müsse. Sprang! Landete auf der Schanze, lief weiter bis zum Ende, hüpfte wieder, wie auf das Brett eines Wassersprungturmes und flog… flog… kugelte eher… überschlug sich… schrie… Und endete auf der Mauer, oben auf. Zwei Gliedmaßen zeigten in die Freiheit, zwei hingen auf der anderen Seite. Alle lachten. Er sah zu ihnen hinunter und äffte sie nach: „Ha, ha…!“

Dann ließ er sich zu seinen Gefährten abgleiten, langsam und vorsichtig. Eine unheimliche Ruhe lag jetzt über dem Gelände.

Mit kleinen wachsamen Schritten schlichen sie fast in einer Reihe durch das Außengelände, welches sie jeden Tag gesehen hatten, aber doch unerreicht gewesen war.

Bei den Nachbarn war Ruhe.

Die Chefin hielt an und blickte hochaufgereckt nach links und rechts. Auch hier war Stille…

Dann rannte sie pfeifend los, alle anderen folgten ihr. Der Untergrund war glatt und warm, roch giftig wie verbrannte Erde. Der Jüngste musste husten, lief jedoch tapfer weiter.

Endlich waren sie angekommen, wo das offerierte Paradies zu finden war.

 

Grenzenlose Freiheit

Lucia begann sofort zu graben und machte deutlich, dass jeder sein Scherflein beitragen müsse. So müde sie waren, sie gruben die ganze Nacht. Dann war es endlich geschafft. Die restliche Zeit bis zum Morgengrauen schliefen sie erschöpft ein, dicht beieinanderliegend, wärmten sie sich gegenseitig.

Einige Stunden später startete die Anführerin mutig in den Tag, betrachtete das Areal und scannte gebannt den Himmel. Die Luft war rein, nichts Ungewolltes geschah. Sie sprang auf eine Erhöhung, nahe dem Eingang ihrer neuen Unterkunft und wartete.

Da kamen die ersten Kinder und hockten sich vor sie hin. Gespannt sahen sie sich an. Das war aber nichts Unbekanntes. Sie kannten es, dass junge Menschen unweigerlich von ihnen gebannt waren. Sie mussten nur mit den Augen blinzeln, ihre Arme ein wenig recken, schon waren die Kleinen nicht mehr von ihnen fortzubewegen. Das erste Kind warf einen halben Keks, das zweite Streuselkuchenkrümel. Alles sammelte die Bande ein und was nicht sofort verputzt wurde, legten sie beiseite.

Über dem Platz lag ein unheimlich süßer Duft von all den Leckereien, die den gesamten Tag unter Jubel und Kichern sowie erstaunten Rufen, ihnen zugeworfen wurden.

Sie beschlossen, in der Nacht genauer zu erkunden, wo der betörende Geruch seine Quelle hatte, und gruben sich näher und näher an den Ursprung.

In einer dicken Felswand, am Ende ihres Stollens, entdeckten sie ein Loch, durch das sie einigermaßen passten und fanden sich in einem gekachelten Raum wieder. Hier strömte der Duft so intensiv, dass es ihnen fast die Sinne raubte. Man wähnte sich im Schlaraffenland.

Sie aßen die ganze Nacht von allerlei Leckereien und waren ungestört. In den frühen Morgenstunden, bevor die Sonne aufging, vernahmen sie dann klappernde Geräusche und huschten aufgeregt durch das Loch wieder zurück in Richtung Unterkunft. Der dicke Max hatte Schwierigkeiten, sich durch die enge Öffnung zu zwängen. Er steckte fest. Mit vereinten Kräften zogen und zerrten sie ihn dann, untermalt von einem Plop-Geräusch, aber frei.

Am nächsten Tag erhielt er die Aufgabe, den Ausguck zu besetzen und Schmiere zu stehen. Das konnte er am besten, da brauchte er sich nicht bewegen und war trotzdem beschäftigt. Die Laterne am Platz sorgte für notwendiges Licht. So war er tapfer und ausdauernd. Hinterher wurde er mit einer Auslese der edelsten Köstlichkeiten reichhaltig belohnt.

Eines stand fest, hier ließ es sich leben, alle Clanmitglieder waren mit der neuen Heimat mehr als zufrieden. Sie wurden dick und rund.

 

Grenzenlose Selbstüberschätzung

Der Sommer ging vorüber und die ersten Herbststürme kamen. Die Menschen eilten schneller an der Behausung vorbei und Krümel gab es weniger. In der Höhle fanden sie jedoch immer etwas. Nur am Tag fehlte es allen an Schlaf, sodass sie nachtaktiv wurden. Meist schliefen sie kurz vor Morgengrauen ein.

In einer dieser späten Nächte hörten sie ein Rumpeln und ein Donnern. Sie kuschelten sich dichter aneinander und lauschten angespannt. Sie warteten einfach ab.

Am Morgen guckten sie vorsichtig vor den Eingang ihrer Behausung. Es war ein Netz davor gespannt worden. Sie eilten wieder in ihr Domizil zurück und liefen alle Ausgänge ab. Überall war so ein Gewebe. Panik stieg auf.

Dann wurde das Dach abgehoben. Ein großes Maul aus Stahl grub sich in die Etage. Dieser Fang schaufelte sich Stück für Stück von oben über ihre Zimmer und Gänge, bis sie wie auf einer freiliegenden Fläche keinen Ausweg mehr in einen Tunnel oder Raum fanden. Sie bewegten sich nicht.

Die Aufregung hatte sie müde und hungrig gemacht.

Gelegen kamen da die einzelnen kleinen Bröckchen, die ihnen nun zugeworfen wurden. Schnell noch fressen! Dann schliefen alle erschöpft ein.

 

Grenzenlose Wahrheit

Die Erdmännchen, die aus dem Zoo durch ein achtlos entsorgtes Skate-Board ausgebrochen waren, und sich an einer nah gelegenen Bäckerei angesiedelt hatten, konnten endlich eingefangen werden. Erdmännchen benötigen eine Schlaftemperatur von mindestens fünfzehn Grad, was in den kommenden Monaten, der kalten Jahreszeit, für sie zum Problem geworden wäre. Alle Tiere sind wohlauf. Gefunden wurde die Gruppe durch den Bäckermeister, der in seiner Backstube Ratten vermutet hatte.

 

Grenzenlose Freude

Kai las dies in der Tageszeitung, er lächelte und ein wohlig warmes Gefühl ergriff seinen Bauch. Dann erblickte er einen Schmetterling auf seiner Müslischale, der seinen Rüssel in die süße Milch tauchte.

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