Von Raina Bodyk

Ausgerechnet dieses billige Klischee! Es ist Tina anzusehen, wie peinlich ihr das alles ist. Aber sie ist besorgt. Nervös spielt sie mit dem Henkel ihrer Handtasche und stammelt:

„Mein Mann ist verschwunden. Er wollte nur Zigaretten holen und kam nicht wieder. Ich konnte ihn auch nicht auf dem Handy erreichen. Drei Stunden warte ich schon, habe all unsere Bekannten angerufen. Nichts! Sie müssen ihn suchen!“

Der hagere Polizist lässt sich nicht anmerken, wie genervt er sich fühlt. Ehemann weggelaufen. Nicht schon wieder!

„Frau Meyring, bestimmt hat er Freunde getroffen und sich verquatscht oder ist noch etwas trinken gegangen. Er wird schon wieder auftauchen. Es sind jedenfalls keine Unfälle gemeldet.“

„Sie müssen die Krankenhäuser abfragen, eine Vermisstenanzeige aufnehmen. Vielleicht ist er einem Verbrecher in die Hände gefallen. Mein Mann würde sich nie einfach so davonmachen! Er würde wenigstens anrufen.“

„Das denken sie alle!“, schluckt Inspektor Krauss gerade noch hinunter.

„Liebe Dame, Ihr Mann ist erwachsen, er kann sich aufhalten, wo er möchte. Oder wurde er bedroht? Hat er eine Straftat begangen?“

„Aber nein. Natürlich nicht!“

„Eheprobleme? Streitigkeiten? Geldprobleme?“

Tina schüttelt verzweifelt den Kopf: „Nein, nein! Es ist alles in Ordnung. Es geht uns gut. Stefan ist seit einem knappen Jahr in Rente.“

„Es kommt häufig vor, dass Männer mit der neuen Freizeit nicht zurechtkommen, depressiv werden.“

„Ja, das habe ich ja erst auch befürchtet. Aber er hat das erstaunlich gut hingekriegt. Er geht regelmäßig zum Sport und hat sich sogar bei einem Schreibkurs angemeldet.“

Krauss grinst bei dem sarkastischen Unterton. Sie hält ihn wohl nicht gerade für eine künftige Größe am Autorenhimmel!

„Er kleidet sich auch legerer. Jeans statt Anzug und Krawatte, wie früher im Büro.“

„Jeans? Aha! Er hat eine Geliebte?!“

„Das verbitte ich mir! Selbstverständlich nicht. Das hätte ich gemerkt.“ Sie registriert das ungläubige Lächeln des Polizisten. „Ganz sicher!“, nickt sie scharf, sich selbst beschwichtigend.

„Vielleicht spielt er Ihnen nur etwas vor?“

„Blödsinn! Tun Sie lieber endlich was, statt dummes Zeug zu reden!“

Krauss stöhnt innerlich: wieder eine sitzengelassene Frau, die das nicht wahrhaben will.

„Gut, Frau Meyring. Wir werden nachforschen, ob ihm etwas passiert ist. Ansonsten können Sie sich höchstens an einen Privatdetektiv wenden. Die Polizei ist da machtlos, wenn er freiwillig gegangen ist.“

„Sie sagen mir bitte sofort Bescheid, wenn Sie etwas haben!“ Sie wischt sich die aufsteigenden Tränen ab.

 

*

 

Schwarze Jeans, schwarze Jacke, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, versucht der Mann, auf seinem Weg im Schatten der Häuser zu bleiben. Schaut sich immer wieder um, ob er verfolgt wird. Als neben ihm ein Auto mit quietschenden Reifen bremst, zuckt er erschrocken zurück. Der Wagen fährt weiter. Erleichtert atmet er auf.

Als erstes braucht er Bargeld. Am nächsten Automaten hebt er, nicht ohne vorher misstrauische Blicke in die Runde zu werfen, tausend Euro ab. Achtet penibel darauf, sein Gesicht nicht von der Kamera erfassen zu lassen. Sein Herz rast.

Mist! Er hat vergessen, die SIM-Karte aus dem Handy zu entfernen! Damit könnte man ihn orten. Am besten gleich weg mit dem ganzen Gerät. Er zertritt es und wirft es in einen Gully.

Alles ist von langer Hand geplant. Sein Ziel ist Wien, circa 950 km entfernt. Öffentliche Verkehrsmittel fallen aus – zu viele Zeugen und Kameras. Leihwagen – unmöglich, da müsste er sich ausweisen.

Als erstes braucht er eine Waffe. Also zum Bahnhof, wo immer so dunkle Gestalten rumlungern. Er hasst Gewalt, aber so ganz ohne Pistole …?

Er spricht einen Junkie an: „He, weißt du, wo ich was kriegen kann, was, ääh, nicht so ganz legal ist?“

„Ey, verschwinde, Alter. Besorg dir deinen Schuss woanders.“

„Aber …“

Zwecklos! Wahrscheinlich ist der Kerl bis unter die Haarkrause zugedröhnt.

Mit leicht wackeligen Knien, die Angst hinter vorgetäuschter Coolness verborgen, quatscht er ein paar zwielichtige, wenig vertrauenerweckende Figuren an, ob sie ihm ein Schießeisen verschaffen könnten. Zwei der Typen reagieren unerwartet aggressiv. Der mit den braun verfärbten Zähnen grinst ihn drohend an, zieht ein Klappmesser.

„Oh, ein ganz Feiner! Biste von der Polente? Zieh bloß Leine, aber fix.“

Das muss man ihm nicht zweimal sagen.

Höhnisches Gelächter schallt hinter ihm her: „Schneller!“

 

*

 

Am nächsten Morgen.

„Frau Meyring, können Sie bitte gleich im Präsidium vorbeischauen?“

Als sie eintrifft, zeigt Krauss auf seinen Rechner: „Erkennen Sie den Mann auf dem Foto? Ist das Ihr Gatte, der sich da gerade Geld holt? Es ist seine EC-Karte.“

„Ich …, ich weiß nicht. Die Größe stimmt, aber so eine Jacke besitzt er nicht. Ist er auf keinem Bild von vorn zu sehen?“

„Leider nein. Der Kerl hat fein aufgepasst, dass ihn die Kamera nicht erwischt. Falls das nicht Ihr Mann ist, müssen wir davon ausgehen, dass er tatsächlich überfallen oder entführt wurde. Wer immer das ist, er benutzt seine Geldkarte.“

„Aber um Himmels willen, wer sollte denn meinen Mann entführen wollen? Wir sind nicht vermögend. Vielleicht wurde er schwer verletzt oder ist – tot!
Nein, halt! Stopp! Das kann nicht mein Mann sein! Er ist Rechtshänder und trägt seinen Ehering links, wo er ihn weniger stört. Es muss ihm was passiert sein.“

„‘Stimmt! Sehr gut. Der Bursche da ist Linkshänder und trägt keinen Ring. Wir werden die Fahndung einleiten.“

 

*

 

Der Flüchtige hastet über morastige Felder Richtung Autobahn und verbringt den Rest der Nacht dort in einer Raststätte. Trotz dreier Tassen Kaffee sinkt sein Kopf irgendwann auf die Tischplatte und düstere Albträume quälen ihn.

Die Morgendämmerung weckt ihn. Ob man ihn bereits sucht? Sicher hängt in allen Polizeistationen sein Fahndungsbild. Ein mulmiges Gefühl beschleicht ihn.

Er muss weiter. Einer der frühstückenden Trucker sieht vertrauenswürdig aus.

„Können Sie mich ein Stück mitnehmen in Richtung München?“

Der Fahrer brummt: „Bis Nürnberg kannste mit. Haste wat ausjefressen?“ Der übernächtigte Bursche interessiert ihn.

 

*

 

„Haben Sie meinen Mann endlich gefunden?“, keucht Tina in den Hörer, nachdem sie in letzter Sekunde das Klingeln gehört hat.

„Hm, nein. Aber … Am Rheinufer haben Passanten eine Leiche mit starken Gesichtsverletzungen gefunden. Es könnte Ihr Mann sein. Sie werden ihn identifizieren müssen.“

Ihr bleibt ein Schrei in der Kehle stecken: „Sie meinen, er ist tot?“

„Das sollen Sie uns sagen.“

 

Eine halbe Stunde später betritt sie zitternd und angsterfüllt die Gerichtsmedizin. Es riecht unangenehm nach Desinfektionsmitteln. Der Pathologe zieht das Tuch, das einen Körper auf einem Metalltisch bedeckt, halb herunter.

Krauss, der sie begleitet, fragt: „Erkennen Sie Ihren Gatten?“

„I-ich weiß nicht.“ Sie kann nicht weiter in dieses zerstörte Gesicht schauen. Aber sie muss wissen, ob es ihr Stefan ist. Ihre Blicke gleiten an den kaum behaarten Armen hinunter. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung, dann stürzt sie abrupt zum Waschbecken und übergibt sich heftig.

„Mein Mann hat einen auffälligen Leberfleck auf dem rechten Arm. Er ist es nicht!“

Der Kommissar schnappt sich sein Telefon und brüllt laut hinein: „Wir dehnen die Suche nach Stefan Meyring aus. Europaweit. Und pronto!“

 

*

 

Der Mann in der schwarzen Kapuzenjacke wird immer nervöser. Der LKW-Fahrer ist verdächtig neugierig. Der fragt ihn ja geradezu aus. Er kann es sich nicht leisten, leichtsinnig zu sein. Der Kerl hinterm Steuer sieht zwar so aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Ob schon was in der Morgenzeitung stand?

„Horchen Sie mich aus?“

„Ganz ruhig, Kumpel! Ich tu dich schon nix. Is‘ halt einsam, immer auf Achse.“

„Lassen Sie mich am nächsten Parkplatz raus.“

„Klaro! Janz, wie du willst.“

 

*

 

Der Schwarzgekleidete besorgt sich mehrere Tageszeitungen am Kiosk und blättert sie hastig durch. Er braucht Gewissheit. Nichts! Brauchen sie gar keine Hilfe der Bevölkerung? Oder sind sie ihm schon auf der Spur?

 

*

 

Kommissar Krauss sieht sich in der Wohnung der Meyrings um.

„Wir werden ab sofort Ihr Telefon überwachen. Wir müssen ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Ihr Gatte entführt wurde.“

„Gestern haben Sie doch gesagt …“

„Ich weiß, ich weiß! Aber dieses lange Schweigen und die EC-Karte Ihres Mannes in fremden Händen sind doch sehr verdächtig.“

 

*

 

Der zweite Trucker, der ihn mitgenommen hat, hat ihn auf dem Parkplatz nahe der Ausfahrt nach Regensburg abgesetzt.

Unversehens rast eine Limousine auf den Rastplatz, dahinter zwei Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene.

Der Kapuzenmann kämpft gegen eine Welle von Panik. Erwischt!

Inzwischen stürmen die Beamten jedoch die Luxuskarosse, zerren einen robust gebauten Kerl mit Goldketten an Hals und Armen raus. Einer von der Mafia, ein Zuhälter?

Nun kommen zwei der Uniformierten mit gezogenen Pistolen auf ihn zu. Ein Mann ohne Auto auf einem Autobahnparkplatz ist natürlich verdächtig.

Oder nein! Klar, die denken, er habe ein Stelldichein mit dem Hünen! Eine Geldübergabe, Drogen oder so. Das ist Wahnsinn! Schleunigst flieht er Richtung Wäldchen am Rand des Platzes.

Ein Schuss in die Luft lässt ihn mitten in der Bewegung erstarren. Er greift in die Tasche. Hinterher hätte er nicht mehr sagen können, warum. Der jüngere der beiden Beamten schießt sofort. In den Oberschenkel getroffen, sinkt er mit einem spitzen Schrei zu Boden.

Der andere Polizist untersucht die Wunde und merkt, dass der Verletzte etwas flüstert. Er legt sein Ohr ganz nah an dessen Lippen.

„Es war ein Spiel!“, hört er das leise, mühsame Flüstern.

 

*

 

Tina steht am Krankenbett ihres Mannes und kann es nicht fassen.

„Bist du übergeschnappt? Du bist absichtlich verschwunden?! Nur für dein Hirngespenst, einen Krimi zu schreiben? ‚Erfahrungen sammeln aus der Sicht eines Flüchtigen‘?“

Sie schnappt keuchend nach Luft, so laut und wütend hat sie gebrüllt.

„Aber Schatz, um als Autor authentisch zu sein, musst du bereit sein, Grenzen zu überschreiten, darfst dich von nichts aufhalten lassen. Das musst du doch verstehen! Mit Pistole wäre es noch echter gewesen. Ich war sicher, dass du die Polizei anrufen würdest. Ich kann mich eben immer auf dich verlassen.“

 

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