Von Katharina Rieder

„Ehrlichkeit säubert den Dreck und sorgt für Klarheit!“, sagte der Blobfisch in meinem Bett, dabei sah er mich mit seinen kleinen, dunklen Augen hartnäckig an. Ich wandte mich ab und starrte demonstrativ auf den grauen Plafond über mir, um seinem hässlichen Antlitz zu entgehen. Doch es half alles nichts, auch wenn ich ihn ignorierte, wusste ich dennoch, dass er da war. Ein großer, fetter Fisch mit dicken, nach unten gezogen Lippen und breiter Nase. Kurzum: schiach (1), schleimig, schal! Er lag ganz wahrhaftig neben mir im Bett und besudelte mit seinem Körper mein weißes, nach Vanille duftendes Laken.

 

Bevor der grausige Blobfisch in meinem Bett auftauchte, war mein Leben ja noch in Ordnung, dachte ich zumindest. Wer die Schuld an dem Dilemma trägt, in dem ich mich nun befinde, ist mir allerdings nicht klar. Ist es die Pandemie, die österreichische Bundesregierung oder bin etwa doch ICH ganz alleine dafür verantwortlich? Jedenfalls hat sich, seit der Blobfisch in meinem Bett liegt, eine riesige Wut in mir breitgemacht. Sie ist viel intensiver als Ärger, impulsiver als Zorn, kurzum ich bin aggro-aggressiv. Ich haue zwar nicht hin, aber schleudere mit ehrlichen Worten um mich, so wie ein kleiner Feuerdrache, der unüberlegt Feuer speit. 

 

Um mich zu verstehen, müsst ihr eines über mich wissen: Ich liebe die Arbeit und die Arbeit liebt mich. Das war schon immer so. Ich bin geschwind, geschwinder als alle anderen. Arbeiten ist für mich wie Leistungssport betreiben. Wer besser, schneller und smarter werden möchte, muss trainieren, muss innovativ sein, muss sich Herausforderungen stellen. Und das tat ich viele Jahre lang. An guten Tagen befand ich mich im Flow. Ihr kennt das vielleicht, wenn ihr vertieft in eine Aufgabe plötzlich eine tiefe mentale Zufriedenheit verspürt und dabei habt ihr das Gefühl, dass sich die Arbeit fast von alleine macht. Das unabdingbare Verlangen nach diesem Erlebniszustand nennt man dann Besessenheit. Mir persönlich gefällt allerdings der Begriff „verzaubert“ viel besser. Verzaubert war ich. Verzaubert davon, Erfolg zu haben, verzaubert davon, die Schnellste zu sein, und verzaubert davon, schlauer als alle anderen zu sein. Fast genauso lieb wie die Arbeit an sich, hatte ich das ganze Drumherum. Das Bürogebäude, mein Office, die Besprechungen mit den Kollegen, die Lästereien an der Café-Bar, die Manipulationen, das Machtgehabe, das „Overrulen“, die Business-Outfits… 

 

Und jetzt? Alles weg, Schluss aus, vorbei. Statt in meinem großzügigen Büro mit zwei Bildschirmen am Tisch, sitze ich schon seit vielen Wochen in fünf Quadratmetern mit Laptop, Displaygröße sieben Zoll, Jogginganzug – leicht ausgebeult. Weil wir nun zum „Daheim buckeln“ (2) verdammt sind, dürfen wir unsere Kinder auch noch gleich selbst betreuen. Vor der abgesperrten Türe toben, hüpfen und schreien sie um die Wette. Es gibt einen, der noch lauter schreit als sie, genau, mein Mann. Obwohl er gleich viel arbeitet wie ich, ist sein Job natürlich immer wichtiger als meiner. Ich spüre schon wieder, wie die Wut in mir hochkocht, eine riesige Welle durchflutet meinen Körper und verbreitet ein Gefühl tiefer Unruhe. 

 

Und als wäre das nicht schon genug, verbringe ich die Nächte anstatt mit meinem Mann, mit einem schleimigen Fisch in meinem Bett. Alles nahm seinen Anfang damit, dass ich für einen kurzen Moment vergessen hatte, dass „Wahrheit“ die Sprache des Schweigens ist. Als es mir wieder einfiel, war es bereits zu spät: Die aufrichtigen Worte waren schon aus meinem Mund gepurzelt. Ihr erinnert euch sicher an den kleinen Feuerdrachen, der unüberlegt Feuer speit. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, es passierte nach zwei Wochen Höchststrafe. So nenne ich es, 24 Stunden sieben Tage die Woche, gemeinsam mit Ehemann und zwei kleinen Kindern im trauten Heim verbringen zu müssen. Zwischen Hausarbeit, Home Office und Kinderbetreuung sprudelte es plötzlich völlig unerwartet aus mir heraus: „I woaß nit, obs mi mit eich nu uweigt!“ (3)

 

Anschließend kam dieser kotzekelige Blobfisch aus der Tiefe meiner Seele zu mir herauf gepeitscht. Nach mehrmaligem Würgen flutschte er endlich aus meinem Mund und landete direkt auf der linken Bettseite. Seitdem liegt er da. An den Meeresbewohner an sich könnte ich mich vielleicht gewöhnen, aber nicht an seine Aussagen und schon gar nicht an seinen Gestank. Ich hasse nämlich Fisch, müsst ihr wissen! Allein sein Geruch verursacht bei mir Brechreiz. 

 

Der Blobfisch in meinem Bett wedelt wichtigtuerisch mit seiner Flosse, dämlich grinst er vor sich hin. Er sperrt sein Maul weit auf, ruft theatralisch aus: „Wer Freiheit gegen Sicherheit tauscht, braucht sich am Ende nicht zu beklagen!“

Am liebsten würde ich ihn packen und gegen die kahle Wand gegenüber klatschten! Ich weiß, dass er recht hat, doch ich möchte es nicht hören. Seit seinem Erscheinen ist mein Verstand damit beschäftigt, das aufgerollte fotografische Filmmaterial meines Lebens vor mir auszubreiten. Wie ein schlechter Werbeslogan, der am untersten Rand des Fernsehers kontinuierlich über den Bildschirm flirrt, rauscht ein und dasselbe Wort immer wieder durch meinen Kopf: „Dumm. Dumm. Dumm…!“

Vielleicht war das mit „dem Heiraten“ und das mit „dem Kinderkriegen“ so eine richtige Scheißidee. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Eingegrenzt anstatt grenzenlos? Es kommt mir grad so vor, als würde ich in einer Sanduhr sitzen. Du verstehst schon: Wenn von oben nichts mehr runterkommt, musst du mit dem alten Sand, der sich unten in diesem engen Gefäß angehäuft hat, zurechtkommen! Mir ist eh schon so schlecht, wegen des Fisches. Die Aussicht darauf dort, bis der Tod uns scheidet, verweilen zu müssen, verstärkt dieses ungute Ziehen in der Magengegend noch zusätzlich.

 

Der Blobfisch tippt mit seinem breiten Maul auf eine bestimmte Stelle auf der Filmrolle. Plötzlich befinde ich mich wieder mittendrin in dieser kleinen, verrauchten Bar von damals. Um mich herum alles junge Gesichter. Als der Barbesitzer zwischen den harmlosen Weiß-Sauer-Spritzern mit dem selbstgebrannten Teufelsschnaps daherkommt, fängt es an auszuufern. Irgendwann schmust jeder mit jedem. Da gibt es außer „geile Drecksauparty“ nichts weiter zu sagen. Die Erinnerung verblasst wieder, der fahle Nachgeschmack bleibt. Offensichtlich dachte ich damals, dass es mit mir so keinesfalls weitergehen konnte. Schockiert von dem unbekannten Potenzial meiner selbst, sah ich wahrscheinlich dringenden Handlungsbedarf. Die Lösung war schnell gefunden: Mann geangelt, Kinder gekriegt, geiles Haus, bald abbezahlt.

 

Vor dem Blobfisch in meinem Bett war doch noch alles gut, dachte ich zu mindestens: Halbzeitangestellte, Halbzeitmama und Teilzeitehefrau. Das Arbeiten im Büro kam mir wie Freizeit vor. Den Nachmittag gemeinsam mit den Kindern überlebte ich schon irgendwie. Abends, wenn sie endlich schliefen, fühlte ich mich wieder wie sich ein Mensch fühlen sollte, selbstbestimmt und frei. Und jetzt, wo mich die verhängten Maßnahmen der Regierung zurück ins Haus drängen, kommt es mir so vor, als würde es darum gehen, altbewährte Rollen zu festigen. Ich bin genau dort angekommen, wo ich nie im Leben hinwollte! Es fehlt nur noch die Kittelschürze…

„Erschieß mich bitte“, sagte ich vor zwanzig Jahren zu meiner Mutter „Wenn ich einmal auf die Idee kommen sollte, Vollzeithausfrau und Mutter zu sein!“ 

Nun ist es soweit. Bereit für die Hinrichtung. 

 

Der ungebetene Gast ist ziemlich laut, denn er blubbert, klopft, pfeift und trommelt mit seiner Schwimmblase vor sich hin. Rhythmisch wackle ich mit meinen Zehen im Takt und meine Finger klopfen auf den Bettrahmen. Dann wage ich es endlich, ich sehe dem blubbernden Blobfisch direkt in sein blödes Gesicht. Ich versinke in seinen Augen und blitzartig trifft mich eine unliebsame Erkenntnis mitten ins Herz. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Der schiache (1) Blobfisch ist nichts anderes als mein eigenes hässliches Ich. 

 

Sollte anstatt „Ich liebe die Arbeit und die Arbeit liebt mich!“ nicht „Ich liebe meinen Mann und ich liebe meine Kinder!“ federleicht über meine Lippen kommen?

Warum bin ich nicht davon verzaubert, Ehefrau zu sein, verzaubert davon, Hausfrau zu sein, verzaubert davon, Mutter zu sein, verzaubert davon 24 Stunden lang Tag für Tag Zeit mit meiner Familie verbringen zu dürfen? Der Blobfisch in meinem Bett hatte so recht, als er sagte: „Ehrlichkeit säubert den Dreck und sorgt für Klarheit!“

 

V3

 

  1. hässlich, unschön
  2. zu Hause arbeiten
  3. „Ich weiß nicht, ob ich mit euch noch meine Zeit verbringen möchte!“