Von Lea Naum

»Du hast es aber versprochen!«

Mein Sohn schiebt trotzig seine Unterlippe nach vorn. Er hat recht. Leider! Ich denke an unser eiliges Frühstück und mein flugs hingeworfenes »Machen wir heute Nachmittag – versprochen!« Da war ich noch frisch und munter. Jetzt ist es später Nachmittag. Ich bin seit zwölf Stunden auf den Beinen und zum Umfallen müde.

»Versprechen muss man halten! Hast Du selbst gesagt!«, legt mein Sohn nach.

»Ja, ich weiß.« Ich seufze und werfe einen wehmütigen Abschiedsblick auf das Sofa mit seinen Kissen und der Kuscheldecke.

 

Eine halbe Stunde später finde ich mich in einer Menschenmasse wieder.

»Guck mal, das geht doch ganz schnell hier!«, sagt mein Sohn. Er kennt meine Abneigung gegen Gedrängel.

»Der Rainer und der Andreas sind auch hier rüber. Die waren gestern schon gucken! Die waren am Kudamm!«

»Ehrlich?«, frage ich erstaunt.

»Ja, doch! Kannst `de mir glauben!«, beteuert er.

Ich bin verdutzt. Rainers Vater ist der Vorsitzende vom Elternaktiv und voll der Genosse. Wieso hat der das so eilig mit dem Westen? Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, denn wir werden von der Masse unaufhaltsam vorwärts geschoben und schließlich durch die Eingangstür zum Tränenpalast in die fremde Welt gequetscht.

 

»Krach bum!« Der Stempelabdruck des Grenzers leuchtet rot in meinem blauen Personalausweis. Er wirft einen finsteren Kontrollblick auf mich, bevor er mir meinen Ausweis wiedergibt. Ich bekomme Angst. Hat die Farbe etwas zu bedeuten? Dürfen wir vielleicht nicht mehr zurück? Und was ist mit meinem Sohn? Kriegt der keinen Extra-Stempel? Was, wenn er nicht mehr mit zurückdarf? Ich schaue mich verstohlen um. Auch die Leute nach mir kriegen rote Stempel. Alle nur einen. Die haben allerdings auch kein Kind dabei. Aber jetzt ist es eh zu spät.

 

Die S-Bahn steht schon da. Auf dem Bahnsteig ein Höllengedränge. Plötzlich ruft ein Mann neben mir. »Leute, Vorsicht, hier ist ein Kind!« Das Geschubse und Geschiebe um uns herum kommt auf rätselhafte Weise zum Stillstand. Wie von Zauberhand tut sich vor uns eine Gasse auf. Mein Sohn reißt sich los und flitzt wieselgleich hindurch. Ich werde unter »Macht Platz für die Mutter!« hinterher geschoben, in den Wagon gequetscht, kann aber im Gewühl meinen Sohn nicht entdecken. In mir steigt Panik auf. Das Klingeln ertönt. Die S-Bahn-Tür schließt sich mit einem »Wummms«. Meine Knie werden weich. »Muttiiii! Muttiii!« Ohh Gott! Das ist er. Ich bin erleichtert. »Er ist hier! Ich hab` ihn hier!«, schreit eine Frauenstimme. Wieder entsteht eine Gasse. Keine Ahnung, wie das geht. Ich schlängle mich durch. Mein Sohn sitzt auf dem Schoß einer dicken Frau. Der junge Mann neben ihr springt auf, als er mich sieht. Ich sage »Danke« und falle auf den Fensterplatz. Mein Sohn rutscht auf meinen Schoß. Ich schlinge die Arme ganz fest um ihn. Die dicke Frau lacht mich an. Ich lächle zurück. Die S-Bahn ruckt an. Sie wankt bedenklich auf dem Weg in den Westen.

 

»Muttiiii!«

Ich schrecke auf! Bin ich eingeschlafen?

»Mutti, guck, die steigen hier alle aus. Wir müssen raus!«

Tatsache! Alle drängen zur Tür.

»Wo sind wir?«, frage ich die dicke Frau neben mir, die versucht, sich ins Gedränge im Gang einzufädeln.

»Na, Zoo!«, antwortet sie kurz, bevor sie der Menschenstrom erfasst und mit hinaus schwemmt. Ich will eigentlich nur eins. Hier sitzenbleiben und noch ein bisschen dösen. Fieberhaft überlege ich. Dann flüstere ich meinem Sohn ins Ohr: »Weißt Du, hier steigen alle aus! Hier ist alles schon entdeckt. Wir fahren bis zur Endstation, dahin wo noch niemand war. Wir machen eine Expedition!«

»Au ja!«, wispert er. Wir tauschen unseren Verschwörerblick aus. Erleichtert lehne ich meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe und nicke wieder ein.

 

Etwa eine Stunde später stehen wir im Stockdunkeln auf einem kahlen und zugigen Bahnhofsvorplatz. Wir sind in Spandau. Wo genau das liegt – ich weiß es nicht.

»Mutti! Ich habe Durst!«

»Ja gut, lass und schauen, wo es hier was gibt!«, sage ich. Wir sehen uns um. In der Ferne entdecken wir an einer Straßenecke zwei Laternen neben einer Tür. Es sieht nach einer Kneipe aus. Wir stapfen los. Ich rechne im Kopf. Ich habe noch 6,45 DM. Das ist an Westgeld vom letzten Weihnachten übrig. Ich habe es für die Matchboxfeuerwehr aus dem Intershop aufgehoben. Die wünscht er sich schon eine Weile. Jetzt wird er sie wohl wegschlürfen. Mir tut das Herz weh. Seins ist heiter. Er singt »Ich trink jetzt Coca-Cola«, und hüpft dazu im Takt auf und ab.

 

»Ich gehe erstmal gucken, Du wartest«, sage ich entschlossen zu meinem Sohn, während ich die Tür zur Kneipe aufziehe. Ohrenbetäubender Lärm schlägt mir entgegen. Es piepst, dudelt, irgendwo klappert Metall aufeinander. Dazu Geblinke und Geratter. Ein Tollhaus! Aber es gibt einen Tresen aus dunklem Holz, hinter dem eine Rothaarige Bier zapft. Zwei Männer in Arbeitsklamotten lehnen lässig am Ausschank. Das ist wie bei uns. Ich nicke meinem Sohn zu. Wir schieben uns durch die Tür. Die Wirtin wirft einen beiläufigen Blick auf uns, dann einen gründlichen. Schließlich stellt sie das halbvolle Bierglas ab und ruft in den lärmgeschwängerten Raum: »Hey Leute, kiekt mal, wer hier ist!«. Dazu nickt sie mit dem Kopf in unsere Richtung. Plötzlich wird es totenstill. Alle starren uns an. Wir starren zurück. Einer der lässigen Tresenmänner richtet sich auf.

»Seid ihr welche aus dem Osten?«, fragt er geradezu. Wir nicken! Er brüllt: »He Leute! Unsere ersten Ossis sind hier!« Stühlerücken, fast alle stehen auf. Im Nu sind wir umringt. Mein Kind wird auf einen Barhocker an der Theke gehoben. Minuten später wissen wir vor lauter »Woher genau?«, »Was machts Du?«, »Ward` ihr schon da und da?«, nicht mehr wo vorn und hinten ist.

»Nun haltet doch mal alle die Klappe!«, brüllt die Wirtin in die Runde. Augenblicklich wird es still.

»Ihr habt doch sicher Hunger und Durst!«, fragt sie und guckt uns fürsorglich an.

»Ja, vor allem Durst«, sagt mein Sohn mit sicherer Stimme.

»Gib ihm `ne Cola, Anni! Geht auf mich!«, ruft einer der Männer aus der Runde.

Die Wirtin gießt Cola ins Glas und stellt es vor meinem Sohn ab. Der trinkt, als hätte er gerade die Sahara durchquert!

»Guck ma, der hat ja `n Zuch!«, sagt ein anderer. Alle lachen. »Na dann!«, sagt Anni »Trinkt und haut rein! Geht alles auf` s Haus!« Alle nicken. Uns wird serviert.

Es gibt Hotdog, der sich als Mini – Ketwurst mit gerösteten Zwiebelkrümeln entpuppt. Ein Cheese Burger ist eine Bulette zwischen zwei labbrigen Semmelteilen mit Käse drauf. Mit halbvollem Mund erklärt mein Kind, was eine Pioniergruppe ist. Ich erläutere den Sinn eines Hortes. Auf die Frage, was für ein Auto wir fahren, antworte ich wahrheitsgemäß, dass wir noch acht Jahre Wartezeit für den Trabbi vor uns haben. Mein Sohn nagt inzwischen an einem Chicken – Wing. Das ist ein fast bis zur Unkenntlichkeit mit Paniermehl verkleideter Broilerflügel. Nach einer guten Stunde muss ich ganz doll auf` s Klo. Coca-Cola wirkt genau wie unsere Fassbrause!

 

Endlich! Erleichterung! Ich bleibe auf dem Klo sitzen. Noch eine Minute Ruhe, bei all dem Tohuwabohu da draußen! Tief durchatmen und dann … los! Ich schaue gewohnheitsmäßig nach rechts oben. Wo ist der Spülkasten? Wo die Kette? Aber da ist nichts. Weiße Fliesen, wohin ich blicke, die Decke schlohweiß. Nirgendwo ein Spülkasten mit Kette dran. Auch keiner mit Knopf zum Drücken. Ich ziehe die Hose hoch und schaue mich weiter um. Irgendwo muss der verflixte Kasten doch sein! Aber da ist nichts. Nicht hier, nicht im Vorraum, nirgends. Mir wird bange. Ich kann unmöglich ohne zu Spülen aus dem Klo gehen. Was sollen die da draußen von uns denken! Ich suche von Neuem, nehme jeden Winkel in Augenschein. Kein Spülkasten nirgends. Das gibt`s doch nicht! In jedem Klo gibt es so einen verdammten Kasten! Von einer Sekunde auf die andere fühle mich total verunsichert. Wer bin ich plötzlich? Ein Ost-Depp, der nicht mal auf dem Klo spülen kann? Jeder Zweijährige weiß bei uns, wie das geht! Angst steigt in mir hoch. Wenn ich nicht mal eine Ahnung habe, wie hier Klospülen geht, wie soll ich dann jemals klarkommen, in dieser Welt, voll Cheese, Chicken, Spielautomaten und Supermärkten? Ich, mit meiner Kaufhalle, dem Elternaktiv und der Spülkastenkette! Ich mache den Klodeckel zu und lasse mich drauf fallen. Mir ist zum Heulen! Erschöpft lehne mich an die rückwärtige Fliesenwand an. »Schhhhhht!« Erschrocken fahre ich hoch! Es spült! Ich starre entgeistert auf die Wand hinter dem Klo. Eine Plastikplatte, in täuschend echte Fliesenflächen unterteilt, im Ganzen bestimmt so groß wie unser Frühstückstablett, neigt sich langsam wieder in die Wand ein. Ich muss unwillkürlich lachen. Ein extra eingebauter Spülkasten! Wer zum Teufel denkt sich sowas aus? Und so viel Plaste für einen Spülknopf! Was für eine Verschwendung! Aus dem Material hätten wir bei uns mindestens drei Abwaschschüsseln gepresst!

 

Auf dem Rückweg ist die S-Bahn fast leer. Ich bin total erledigt, mein Sohn völlig aufgedreht. Er hat – während ich auf dem Klo war – mit Plastikpfeilen eine piepsende »Spießmaschine« getroffen und ein Matchboxpolizeiauto geschenkt bekommen.

»War auf Deinem Klo auch so ein Ding?«, will er plötzlich wissen.

Ich schrecke auf. »Was für ein Ding?«, frage ich.

»Na dieses Spülbrett! So groß!« Er beschreibt mit seinen ausgebreiteten Armen ein Viereck. »Irre! Die denken sich Sachen aus, die Wessis!«

»Ja, da hast Du recht!«, stimme ich zu.

»Aber mit unserer Kette funktionierts auch!«, stellt er fest.

»So sieht`s aus!«, sage ich und ahne dunkel, dass es bei uns vielleicht nicht mehr lange so aussehen wird.

 

Fünf Jahre später steht in meinem Ausweis ein neuer Straßenname, obwohl wir gar nicht umgezogen sind. Mein ehemaliger Ost-Chef geriet auf der A 9 an einen Brückenpfeiler. Sie sagen, er habe das Auto unterschätzt. Ich glaube das nicht so ganz. Wir ziehen immer noch an der Klokette. Aber nur noch drei Wochen. Dann beginnt die Luxussanierung.

 

V2