Von Michael Kothe

Grenzenlos ist die Macht des Geistes. Darüber sind wir uns im Klaren spätestens seit wir um autogenes Training, den Placebo-Effekt, Telepathie, Telekinese und Levitation wissen. Beim autogenen Training funktioniert es. Am Nachweis eines anderen Aspekts ist mir heute gelegen: der geistigen Beeinflussung von Menschen – von zahlreichen Menschen! Ich übe, aber von meinem Standplatz aus ist es keine einfache Angelegenheit, meine Gedanken, meinen Willen auszurichten. Zu viele Beobachtungen, zu viele Erinnerungen buhlen mit meiner Konzentration um die nötige Aufmerksamkeit. Zumindest bemühe ich mich, die mir selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen: für diese Menschen unsichtbar zu sein. 

Im Schein der Nachmittagssonne stehe ich auf dem Balkon, der für einen französischen zu groß ist, aber auch nicht den Platz für Bistrostühle und ein Tischchen bietet. So drücke ich meinen Rücken an den sonnengewärmten Putz der Fassade und manipuliere durch das hüfthohe, weite schmiedeeiserne Geländer das Leben, das zwei Stockwerke unter mir pulsiert. Der Marktplatz liegt zu meiner Rechten am Ende der Fußgängerzone, mir gegenüber freuen sich die Betreiber der beiden Straßencafés über vollbesetzte Tische. All diese Leben beherrsche ich durch die Kraft meines Geistes, meines schieren Willens. Sie sehen mich nicht, für sie bin ich nicht existent. Unsichtbar könnte ich zwischen ihnen wandeln! Ich stelle mir vor, sie zu berühren, und sie würden sich umdrehen und verständnislos um sich glotzen, weil sie mich nicht wahrnähmen.

Einem meiner Opfer schaue ich nach. Ich hätte es besser nicht getan! Die junge Frau betritt den Marktplatz und wendet sich nach rechts aus meinem Blickfeld. Ich habe die Macht über sie verloren. Im Gegenzug erwischt mich eine im Moment unerwünschte Erinnerung.

»Guck mal, der ist ja nackt!«

Nicht des Märchens des Dänen Hans Christian Andersen entsinne ich mich. Nein, ich erfreue mich an dem Ausruf, beinahe unserem Schlachtruf. Wie oft hatten wir als Buben freitags Marktbesucher wie Standbetreiber gefoppt und sie durch den Ruf und unsere ausgestreckten Arme dazu gebracht, sich die Hälse zu verrenken! Einen Blick auf das Unerhörte, auf das Verwerfliche wollte jeder erhaschen.

Recht überlegt hatte bei diesem Erlebnis nicht unser Geist Macht über andere ausgeübt, vielmehr waren wir Diener und Gehilfen eines Geistes, der uns diese kindischen Ideen eingegeben hatte. Heute sollte das anders sein! Ernsthafter. Souveräner. Keinen Widerstand duldend

 Ich blicke auf die Menschen, die unter mir ihrem Tagwerk oder ihren Vergnügungen nachgehen oder nachjagen. Allein meine Konzentration beeinflusst und lenkt ihre Wahrnehmung, ihre Gedanken und ihr ganzes Tun. Nur fest daran glauben muss ich. Dummerweise bin ich selbst nicht gefeit gegen Störungen, gegen die Ablenkung meiner Gedanken vom Wesentlichen, das ich mir zur Aufgabe gemacht habe. Beinah hätte ich aufgelacht, was ich mir aber nicht erlauben darf. Konzentration bitte! Sonst gelingt meine Übung nicht.

Dennoch: Eine alte Geschichte kommt mir in den Sinn. 

Nach der Pubertät – wir waren älter, aber nicht unbedingt reifer – richteten sich unsere Scherze vom Unmoralischen und Verbotenen weg und zogen sich hin zu Statussymbolen. Stundenlang ergötzten wir uns an den Gesichtern von erschrockenen Fahrzeugbesitzern, die auf dem Supermarktparkplatz gerade unseren Zettel mit dem kurzen Text »Das mit dem Kratzer tut mir Leid« unter dem Wischer hervorgezogen hatten. Nun schlichen sie in gebückter Haltung um ihre Karossen und suchten verzweifelt den nicht vorhandenen Schaden. Handkanten wischten sanft über Straßenstaub und legten hier matten, dort blanken Lack bloß.

Ich muss an mich halten, um nicht loszuprusten. Contenance! Konzentration! Ich beiße mir auf die Lippe. Aber mein Gedankengespinst dehnt sich aus. Zu stark ist die Assoziation beim Gedanken ans Bloßlegen! Auch muss meine Erinnerung sich nur wenige Tage in die Vergangenheit bemühen.

Mein Abteilungsleiter hatte aus Anlass seines Sechzigsten zu einer Grillparty eingeladen. Ich stand in der Nähe eines Managers, der sein Erlebnis ohne den genossenen Alkohol sicherlich nicht preisgegeben hätte. An seinem Geburtstag war er allein, und so nahm er die Einladung seiner Sekretärin an, ihm ihre neue Wohnung zu zeigen. Stolz präsentierte sie ihm die Einbauküche, die neue Couchgarnitur und huschte dann ins letzte, nicht gezeigte Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

»Und als sie die Tür wieder öffnete, stand die halbe Teppichetage im Schlafzimmer und brachte mir ein Ständchen. Oh Gott, war das peinlich!«

»Wieso peinlich? Das war doch einen nette Überraschung.«

»Schon. Aber ich hatte bis auf die Socken nichts mehr an.«

Warum drehen sich meine Gedanken so intensiv um die nackte Männlichkeit? Oder soll ich sagen: um die männliche Nacktheit? Zwar kenne ich die Antwort, aber auch diese akademische Betrachtung kann ich nicht zu Ende bringen.

»Guck mal, der ist ja nackt!«

Der Ruf reißt mich endgültig aus meiner Konzentration. Mein manipulierender Wille erstirbt, ich beende meine mentale Übung und presse den Rücken fester an die Hauswand. Ein Königreich gäbe ich für ein Mauseloch! Nun kommt er unaufhaltsam auf mich zu und baut sich unheilschwanger vor mir auf: Der Augenblick, den mein Unterbewusstsein durch das absichtliche Hineinziehen der Peinlichkeit ins Lächerliche kleinzureden versucht hatte. Meine Konzentration ist fort, mein Geist schwächelt, die Menschen da unten habe ich nicht mehr im Griff!

»Guck mal, der Mann ist ja nackt«, wiederholt der Steppke, und nicht nur sein Vater schaut hoch. Passanten bleiben stehen und lassen ihre Blicke an der Fassade emporklettern. Frauen halten ihre Freundin am Arm und deuten mit der anderen Hand nach oben. An den Tischen der Straßencafés bleiben Münder offen stehen, Gabeln mit Brocken von Sahnetorten verharren in der Luft, und gefühlte tausend Augen durchdringen das weitmaschige Schmiedeeisen des Balkongeländers.

Ein Rückzug bleibt mir verwehrt. Selbst mein ach so mächtiger Geist findet hier seine Grenzen. Der Hausherr hat die Balkontür zugedrückt und den Klappriegel vorgelegt. Gerade streicht er im Schlafzimmer ein letztes Mal das Nadelstreifensakko auf dem stummen Diener glatt, bevor er seine Krawatte darüber hängt.

Meine Geliebte hat es leicht, ihren der Tageszeit unangemessenen Aufenthaltsort mit einer Migräne zu begründen und unter der dünnen Decke meine hastig darunter gestopfte Kleidung an sich zu drücken. Meine Konturen und die meiner prallen Männlichkeit hätte diese Decke jedoch nicht zu verbergen gewusst.

Längst schon ist in mir die Erkenntnis gereift, dass die grenzenlose Macht des Geistes dem Bereich der Märchen zuzuordnen ist. Meinem eigenen Geist ist es ein schwacher Trost zu wissen, dass all dies jedem widerfahren kann, der mitten im Liebesakt den Wohnungsschlüssel im Schloss hört und gleich darauf ein fröhlich gekrähtes »Liebling, heute bin ich früher zurück!«

 

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