Von Eva Fischer

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Immer wieder starre ich auf die Zahlen meines Radioweckers, die weiß auf blauem Hintergrund leuchten. Ich wälze mich in meinem viel zu breiten Bett von einer Seite auf die andere, versuche mir schöne Gedanken aus der Vergangenheit zu zupfen. Vergeblich!

Ich kann nicht schlafen, habe mich in einen nachtaktiven Hamster verwandelt, der monoton seine Runden im Laufrad dreht. Ich stehe auf, gehe zur Toilette und anschließend in die Küche, um mir ein Glas Milch zu holen. Das soll helfen beim Einschlafen. Kurz darauf in meinem Bett bin ich putzmunter. Ich denke an die Reklame für Einschlafsprays, Einschlafpillen …Ich sehe die Alten mit einem seligen Lächeln durch die Lavendelfelder schweben. Reklame ist Märchenstunde für Erwachsene, denke ich. Das Übel liegt doch ganz woanders.

Gott schied das Licht von der Finsternis, heißt es im Schöpfungsbericht.

Warum schied er anstatt sich zu entscheiden? Hell oder dunkel?

Warum presst er uns in dieses Hell-Dunkel-Schema, das uns unerbittlich Tag für Tag übergestülpt wird?

Warum muss ich mir diese dämlichen Zahlen angucken, die sich aufführen wie Königinnen der Nacht?

Warum muss ich mich diesem autoritären Zeitdiktat unterwerfen?

Warum muss die Zeit durch Zahlen zerstückelt werden?

Warum kann die Zeit nicht grenzenlos und frei sein?

Wie ein Blitz schlägt die Lösung all dieser Warum- und Muss-Fragen in meinem Kopf ein. Ich ziehe den Stecker. Augenblicklich verschwinden die Zahlen. Ab jetzt gibt es keine Uhrzeit mehr, keine Einschlaf- und Aufwachpflicht.

Hinter den Fenstern kämpfen sich hellgraue Strähnen in das Schwarz der Nacht.  Ich schließe die Rollläden und mache die gottgewollte Zweiteilung in Tag und Nacht rückgängig. Wie ein Astronaut werde ich schweben. Ich werde endlich frei und zeitlos sein. Ich suche nach Uhren, nach Zeitverrätern in meinem Haus, um sie im Mülleimer zu entsorgen.

Auch beim Fernseher ziehe ich den Stecker. Wenn es keine Stunden mehr gibt, die gezählt werden, dann gibt es auch keine Tage, keine Jahre, keine Daten. Was interessieren mich die Nachrichten aus einer Zeit, die den Anspruch erhebt, die einzig gültige zu sein?

Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr. Die Zukunft ist ein lächerliches Konstrukt, das schon immer auf wackligen Beinen stand. Der Tod war stets der Stärkere. Die Zukunft zu löschen, das wird mir nicht schwerfallen. Wie sieht es hingegen mit der Vergangenheit aus? Sie wird unerwünscht aus der Erde sprießen wie Bambustriebe. Da wird es etwas dauern, bis ich sie endgültig entwurzelt habe.

Gibt es noch die Gegenwart? Nein, denn ohne ihre Stützen- Vergangenheit und Zukunft- ist sie ein Nichts, ist sie nur ein Virus, das ohne fremden Wirt nicht auskommt.

Ich mache Musik an. Sie ist zeitlos.

Und dann schlummere ich sanft wieder ein.

Hunger- und Durstgefühl wecken mich. Ich gehe in den Keller und nehme mir einen Beutel aus dem Regal. Ich habe Vorräte für die Ewigkeit. Auf der anderen Seite der Vorratskammer starren mich fein gestapelte Paletten von weißem Klopapier an. Auch da habe ich vorgesorgt.

Ich gieße heißes Wasser über den Inhalt des Beutels und schaue zu, wie sich braune Klumpen in Fleisch verwandeln und bunte Bröckchen in Gemüse. Darin schwimmen kleine weiße Würmer, die sich zu Nudeln aufblähen. Als Tischkonzert höre ich „Freude schöner Götterfunken.“ So rutscht alles besser.

Bilder von einer festlich geschmückten Tafel tauchen vor meinem inneren Auge auf. Edles weißes Porzellan. Silbernes Besteck. Gefüllte Rotweingläser. Der Duft von einem Gänsebraten. Dahinter sehe ich ihr Gesicht, das mir auffordernd zulächelt. „Komm Junge! Iss! Das habe ich doch alles für dich gekocht. Deine Lieblingsspeise.“

Ich spucke die geschmacklosen Essensteile in die Spüle und greife zu einer Beatles CD. „We all live in a yellow submarine“ trötet es fröhlich aus dem Lautsprecher.

Die Zeit ist das unendliche Meer. Ich steige in mein gelbes U-Boot. Wo ist meine Mannschaft geblieben? Bin ich der erste oder letzte? Egal! Ich werde immer tiefer tauchen und das bisher Unsichtbare ergründen. Ich werde Landschaften und Tiere sehen, die bisher keiner sah. Schnurrende Katzenhaie, Blauwale so groß wie mein U-Boot, phosphoreszierende Sterne, untergegangene Schiffe mit untergegangenen Hoffnungen. Da schwimmt sie in ihrem weißen Nachthemd! Sieht sie nicht friedlich aus! Mutter, du hast dich doch immer vor dem Meer gefürchtet. Besser das Meer als das Feuer.

Das Feuer ist die Hölle. Schweiß rinnt über deine Stirn. Deine Haare kleben strähnig daran fest. Deine Augen sind zu Schlitzen geworden, drohen jeden Augenblick zu erlöschen. Ich rüttle an deinem zerbrechlichen Körper. Halte durch!!! Sie werden bald hier sein. Sie können uns hier drinnen nicht einfach vergessen, nur weil da draußen ein unsichtbarer Virus tobt. Wasser! Jede Pore deines Körpers lechzt danach.

Ich nehme einen mit kaltem Wasser getränkten Waschlappen und tupfe über deine Stirn, mache dir kühle Wadenwickel, so wie du sie mir als Kind gemacht hast. Doch das Fieber lässt nicht nach. Kein Arzt lässt sich blicken. Sie sind alle im Einsatz, wird mir versichert. Sobald einer frei wird, schicken sie einen. Was soll ich nur machen mit diesem im Fieber brennenden Körper?

Irgendwann, mitten in der Nacht, lässt das Fieber nach. Du hast die Augen geschlossen, zeigst keinerlei Reaktion mehr.

Ich gehe ins Bad und fülle die Wanne mit Wasser und duftenden Essenzen von Zitrusfrüchten, die du so geliebt hast. Mozarts Zauberflöte begleitet uns.

Schlafe sanft!

Deine Haut ist so weiß wie die von Schneewittchen. Wann spuckst du endlich den vergifteten Apfel aus? Wann kommt der erlösende Kuss?

Deine Retter haben sich Zeit gelassen, die du nicht hattest.  

„Der Gefangenenchor“ von Verdi erschallt durch das Haus. Ich lösche das Licht. Dunkelheit umhüllt mich wie der Mantel ein frierendes Kind.

„Grüße die Ufer des Jordan!“  Körper und Geist werden eins mit der Musik und dem Text. Endlich! Die Zeit ist aus den Fugen!

*

„Signore Colombo, öffnen Sie bitte die Tür! Die Ausgangssperre ist beendet. Wir haben auch einen Arzt mitgebracht, der sich um Ihre Mutter kümmern wird.“

 

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