Von Renate Oberrisser

Donnerstag, 7. Februar, später Nachmittag:

 

Obwohl Ruth nichts davon hält, steht sie im Dämmerlicht und bei Nieselregen vor diesem mehrstöckigen Haus. Um nicht den Anschein von Zögerlichkeit zu vermitteln, gibt sie vor, die Übersichtstafeln der ansässigen Firmen: Anwälte, Arbeitsvermittlung, Ärzte … genau zu studieren.

„Geh doch mal hin und lass dich beraten. Mich hat es weiter gebracht. Und was kannst du schon dabei verlieren? Es kostet ja nicht die Welt“, hört sie die verheißenden Worte ihrer Freundin Sibylle noch im Gedächtnis nachklingen.

 

Nervös nestelt Ruth ihr Handy aus der Tasche und kontrolliert die eingegangenen Nachrichten. Nichts. Keine Absage, keine Zusage. Nichts. Außer! Ein paar unnötige Newsletter, die danach schreien, abbestellt zu werden.

„Vielleicht hat Sibylle ja recht“, überlegt sie, während ihr Zeigefinger über die Klingelschilder wandert und sie beherzt auf den Knopf neben dem Namen ‚Hulda Jiska‘ drückt. Die Tür springt prompt mit einem durchdringenden Summton auf. Hibbelig nestelt sie an ihrem Jackenknöpfen herum. Sie lässt den Fahrstuhl links liegen und geht die Treppe in den 5. Stock hinauf, um sich innerlich nochmals zu sammeln.

 

Samstag, 9. Februar, zu vorgerückter Stunde:

 

„Schau mal, die Blondine in dem roten Kleid, an der Bar neben der Tanzfläche. Ich glaub, die hat einmal bei mir in der Firma gearbeitet“, erwähnt Ruth, stupst Sibylle am Arm und deutet ihr, dass sie einen kurzen Ortswechsel anstrebt. Sibylle nickt geflissentlich und erörtert weiter angeregt mit dem Kellner den Stand der Sterne und welchen Einfluss der Mond gerade auf sein Horoskop hat.  Das ist Sibylle, wie sie leibt und lebt, denkt Ruth und entschwebt.

„Ja mir erging es genauso. Ich kann dich gut verstehen, dass du dort weg willst. Schick deine Unterlagen an meinen Ex-Schwager. Was ich weiß, brauchen die immer Leute“,  pflichtet ihr die blonde Ex-Kollegin verständnisvoll bei.

 

Mittwoch, 13. Februar, Mittagspause:

 

„Stell dir vor, morgen Nachmittag ist schon der Termin für das Vorstellungsgespräch.“ Mit dieser Nachricht überfällt Ruth ihre Freundin am Telefon.

„Na, ich hab es ja gewusst! War doch gut, dass du bei Hulda warst. Den Job hast du schon in der Tasche“, prophezeit Sibylle.

 

Montag, 18. Februar, E-Mail Posteingang:

 

„Sehr geehrte Frau Sommer! Wir bedanken uns herzlich für das entgegengebrachte Interesse und freuen uns, Sie mit 1. April als neue Mitarbeiterin in unserem Unternehmen begrüßen zu dürfen …“

 

Montag, 1. April, Dienstbeginn:

 

„Liebe Ruth, deine Arbeitskollegen hast du ja bereits im Februar kennengelernt. Wie die Arbeitsbereiche aufgeteilt werden, wird dir Frau Krause noch sagen. Das kommt jetzt zwar etwas kurzfristig, aber in der Osterwoche nimmst du dir am besten gleich mal zwei Tage frei, da werden die Büromöbel abgebaut und nach den Feiertagen, am 23.April, startet der ganze Abteilungsbetrieb im 7. Stock neu.“ Mit diesen Worten wird Ruth vom ihrem neuen Chef, dem Ex-Schwager ihrer Ex-Arbeitskollegin empfangen.

 

Osterwoche, freier Tag:

 

„Sibylle, ich halt das nicht aus, wenn es nach Ostern so weiter geht mit der Krause, dann werfe ich das Handtuch“, stöhnt Ruth, erleichtert über die kurze Arbeitsunterbrechung. „Die Krause glaubt, dass ich das neue Lehrmädchen bin. Außer Hilfstätigkeiten hat sie mir noch nichts gezeigt. Wenn ich mit dem Chef reden will, sagt er immer, er habe gerade überhaupt keine Zeit und ich soll mich an die Krause  halten, die weiß am besten was zu tun ist. Und sie reagiert voll sauer, weil sie glaubt, dass ich sie verpetze oder ihr den Job streitig machen will. Du kennst mich doch, so bin ich doch nicht!“

 

Die österliche Stimmung will sich das ganze Wochenende nicht so richtig einstellen. Wie ein Stein liegt Ruth das Verhalten ihrer Kollegin im Magen. Mobbing war immer so ein Thema aus den Medien, aber keines in ihrem Leben. Vielleicht sollte sie eine Aussprache mit Frau Krause versuchen. So etwas nach nicht mal drei Wochen. Ruth schüttelt ungläubig den Kopf.

 

Dienstag, 23. April, vormittags:

 

Ruth sitzt alleine in ihrem neuen Büro im 7. Stockwerk. Der Knall der zuschlagenden Tür hallt zwischen den noch leeren Wänden und Kästen nach. Die Krause geht sich wegen ihrer unkollegialen Art beim Chef beschweren.  In der Zwischenzeit schaut Ruth aus dem Fenster. Der herrliche Ausblick ist das einzig Positive daran und der Horizont scheint greifbar nah.

„Jetzt oder nie! Es kann doch  nicht sein, dass ein Umzug in den 7. Stock der einzig mögliche  berufliche Um- oder Aufstieg in dieser Firma ist. Dann doch besser gleich im Probemonat vom ‚unkollegialen Mädchen für alles‘ zur Ex-Mitarbeiterin avancieren“, ermutigt sich Ruth.

 

Dienstag, 23. April, Mittagspause:

 

„Hallo Sibylle, weißt du schon das Neueste?!“, überfällt Ruth ihre Freundin am Telefon.

„Nein, sag bloß, du hast es wirklich getan?“, orakelt Sibylle.

„Ja, ich bin ins Personalbüro und hab gefragt, ob es die Möglichkeit gibt, mich versetzen zu lassen. Möglichst weit weg von der Krause. Oder ich kündige.“

„Und sie haben dir prompt eine neue Position angeboten“, prognostiziert Sibylle den weiteren Verlauf des Gespräches. „Hab ich mir doch gleich gedacht, dass der Arbeitsbeginn am 1. April nur ein schlechter Scherz sein kann. Noch dazu bei dem Stand der Sterne. Da muss doch was Besseres für dich drinnen sein. Hab ich es dir nicht gleich gesagt? Und die Hulda hat es doch auch gesagt!“

 

Ruth sitzt alleine in ihrem neuen Büro im 7. Stockwerk. Sie beißt zufrieden in ihr Jausenbrot und genießt den herrlichen Ausblick, in der Gewissheit, dass es möglich ist, den Horizont zu überschreiten. Wie es soweit kommen konnte, kann sie noch immer nicht nachvollziehen. Die Krause tut ihr irgendwie leid. Aber Waffenstillstand und Einigung funktionieren eben nicht einseitig.

 

Freitag, 27. April, abends:

 

„Dem Chef hat das Getue der Krause auch endgültig gereicht. Ich war nicht die Einzige, die von ihr vergrault wurde. Die Krause darf die letzten zwei Jahre bis zur Pensionierung im Archiv werkeln“, berichtet Ruth sehr erleichtert.

„Erzähl nochmal genau, was Hulda gesagt hat“, fragt Sibylle nun schon zum x-ten Mal nach.

 

Gedächtnisprotokoll für Sibylle von Ruth

Donnerstag, 7. Februar, später Nachmittag, im 5. Stock, hinter der Tür mit der Aufschrift

„Hulda Jiska – Spökenkieker“, bei sanft flackerndem Licht und meditativen Klängen:

 

„Die Karten zeigen es eindeutig, du hast bereits einen neuen Job,“ verkündet Frau Jiska.

„Aha“, wundert sich Ruth.

„Durch eine Frau, eine weiße Frau, kann auch eine Arbeitskollegin sein. Ein Mann, jemand aus ihrem Umfeld, …“, deutet die Seherin die Karten weiter. „Ein rascher Aufstieg ist möglich. Lass dich aber nicht vertreiben. Der erste Anlauf ist nicht das Ende.“

„Das klingt ja vielversprechend, wenn auch nicht ganz unproblematisch“, bedankt sich Ruth.

„Glaub daran, die Möglichkeiten, die das Universum bietet, sind grenzenlos und die Karten lügen nie!“, prophezeit Hulda, „sonst wäre mein Name nicht meine Berufung.“

 

„Wie recht sie damit hatte. Nomen est omen. Nicht wahr, Sibylle!“ prostet Ruth ihrer Freundin zu und ist schon auf zukünftige Prophezeiungen gespannt.

 

 

Spökenkieker = hat die Gabe in die Zukunft zu sehen

In der Bibel ist Huldah eine Prophetin

Yiskah =  in die Zukunft schauen (Hebräisch)

Sibylle =  die Prophetin, die weissagende Frau, die Seherin … (… griechische Mythologie)

 

Version 3