Von Ursula Riedinger

Voller Vorfreude nahm Liza die letzten Stufen und drückte die Klinke Ihrer Wohnungstüre hinunter. Die Türe war geschlossen. Merkwürdig. Linus war also noch nicht zu Hause. Der Freitagabend war immer ihr ganz besonderer gemeinsamer Abend, auf den sie sich beide freuten. Linus machte am Freitag um 16 Uhr Feierabend, kaufte auf dem Nachhauseweg ein und war, wenn sie später nach Hause kam, in der Küche damit beschäftigt, ein exquisites mehrgängiges Nachtessen zuzubereiten. 

Heute war etwas anders. Verwundert schloss Liza auf, legte den Mantel ab und zog ihr Handy hervor. Es war 17.30 Uhr, aber keine Nachricht von Linus. Absolut ungewöhnlich. Sie schrieb ihm ein kurzes SMS: Bist du verspätet? Soll ich einkaufen? Um 18.30 Uhr war immer noch keine Antwort von ihm da. Sie begann, sich Sorgen zu machen. Sicher war etwas passiert. Wieso sollte er sonst um diese Zeit nicht hier sein? Sie starrte unverwandt auf den Bildschirm ihres Handys, konnte sich nicht aufraffen, nochmals aus dem Haus zu gehen, um etwas einzukaufen. Hunger hatte sie keinen. 

Um 19.30 Uhr rief sie bei der Polizei an. 

«Beruhigen Sie sich erst Mal, Frau M., Ihr Mann ist sicher noch ein Feierabendbier trinken gegangen.»

«Tut er aber nie, und sicher nicht an einem Freitagabend. Es ist sicher etwas passiert.»

«Wenn er um Mitternacht noch nicht da ist, rufen Sie nochmals an.»

Liza tigerte durch die Wohnung, stellte den Fernseher an und wieder aus. Dann legte sie sich angezogen aufs Bett. Linus und sie waren glücklich zusammen. Sie verstanden sich fast immer, Streitereien dauerten nie lange, sie teilten viele Interessen und auch ihr Sexleben war immer noch so gut wie am Anfang ihrer Beziehung, nein, eigentlich besser. Sie machten gemeinsame Pläne, verreisten oft zusammen und genossen ihre Reisen. Klar, mal musste der eine, mal der andere einen Kompromiss eingehen, mal gingen sie auch getrennte Wege. Aber der Freitagabend gehörte zu ihrem festen Ritual, auf das sie sich beide immer sehr freuten. Linus kochte für sie und sie liessen die Woche bei einem Glas Wein und Kerzenlicht Revue passieren. Ihre Gedanken kreisten um Linus. Wo war er? 

Sie war eingeschlummert und schreckte plötzlich auf, der Wecker zeigte 2 Uhr. Liza schlüpfte in ihren Pijama und versuchte, nochmals einzuschlafen. Um 6 Uhr war sie wieder hell wach, wenn auch gerädert. Linus war nicht da! Was war bloss passiert? Nun begannen die Tränen zu fliessen. Dann riss sie sich zusammen und rief wieder bei der Polizei an. Man versprach, die Suche einzuleiten, sie solle doch auf dem Polizeiposten vorbeikommen, damit sie ein Suchprofil erstellen konnten. Um 7.30 Uhr sass Liza ungeschminkt und mit verweinten Augen auf dem Posten. 

Wachmeister Weber brachte ihr eine Tasse Kaffee. 

«Das wird Ihnen gut tun.»

Er nahm die Beschreibung auf. Liza reichte ihm ein Foto, das sie immer im Portemonnaie bei sich trug. Es zeigten einen strahlenden Linus am Meer, der locker in die Kamera winkte. Das Bild war vor zwei Jahren aufgenommen worden, als sie auf Zakynthos waren. Seine blonden Haare waren zerzaust vom Wind. Er war braun gebrannt und trug ein türkisfarbenes T-Shirt, dass ihm ausgezeichnet stand. Dann wurde sie nach seinen Gewohnheiten gefragt, zu wem er gegangen sein könnte. 

«Wir haben ein paar nahe Freunde in der Nähe, aber da würde er doch nicht hingehen, ohne mich zu benachrichtigen.»

«Da haben Sie aber grosses Vertrauen in Ihren Mann.»

«Mein Vertrauen ist grenzenlos, er würde mich niemals im Ungewissen lassen.»

Unterdessen hatten sie auch bei den Spitälern in der Stadt nachgefragt. Linus war nirgends eingeliefert worden. 

«Gehen Sie nach Hause und bleiben Sie ruhig, wir melden uns, wenn wir etwas wissen.»

Ruhig bleiben konnte sie natürlich nicht. Das ganze Wochenende zermürbte Sie sich in Gedanken. Sie trank Wasser, ab und zu einen Kaffee und ass ein Joghurt. Sonst lag sie herum und grübelte. 

Am Montag meldete sich Liza krank in der Firma. Sie hatte zwar wahnsinnig viel zu tun, ein wichtiges Meeting stand an, aber sie hätte sich auf nichts konzentrieren können. 

Um 11 Uhr klingelte das Telefon, Wachtmeister Weber meldete sich. 

«Setzen Sie sich erst einmal, Frau M. Wir haben eine Spur von Ihrem Mann gefunden.»

«Und, lebt er?»

«Es sieht so aus.»

Die Erleichterung bei Liza war riesig.

«Gibt es einen Grund, warum Ihr Mann plötzlich auf die Philippinen hätte reisen müssen?»

«Nein, das hätte ich doch gewusst.»

«Ich weiss, Frau M., Sie vertrauen Ihrem Mann. Ich gebe Ihnen trotzdem einen kleinen Tipp. Prüfen Sie den Kontostand Ihres gemeinsamen Kontos, wenn sie eins haben..» 

Liza war sprachlos.

«Wir wissen nicht ganz genau, wo Ihr Mann jetzt ist, aber er hat ein Ticket nach Manila gekauft. Einfach. Der Flug mit Qatar Airways ging am Freitag um 16.11 Uhr. Wir werden uns selbstverständlich bei der Schweizer Botschaft erkundigen, ob man mehr über seinen Aufenthalt in Erfahrung bringen kann.»

Als Liza den Anruf weggedrückt hatte, liess sie ihren Kopf auf den Tisch fallen. 

Philippinen? Ja, einmal war Linus zwei Wochen alleine auf den Philippinen gewesen, als sie einen wichtigen Kongress in Stockholm hatte. Vor drei Jahren war das. Er hatte ihr danach haarklein erzählt, wie er seine Zeit verbracht hatte. Noch nie hatte Liza Zweifel an Linus Erzählungen gehabt. Er erzählte immer spontan, offen und absolut glaubhaft. Aber was war das jetzt?

Dann loggte sich Liza im e-Banking ein. Als sie das gemeinsame Konto öffnete, das sie für Reisen, grössere Anschaffungen und die täglichen Einkäufe brauchten, starrte sie auf den Saldo. Das Konto wies nur noch 300 Franken drauf, der Rest war abgebucht worden. Bezogen am letzten Donnerstag durch Linus M. Es mussten etwa 80’000 Franken gewesen sein. 

Linus war abgehauen! Hatte sich abgesetzt, ohne dass sie die geringste Ahnung hatte, warum. Nun kam eine fürchterliche Wut in ihr auf. Nicht nur auf Linus. Auch auf sich selbst. Wie konnte sie Linus so falsch einschätzen? Warum hatte der Feigling ihr nicht mal eine Nachricht hinterlassen? Unfassbar.

Sie regelte die Arbeit mit ihrer Assistentin, blieb zu Hause und machte sich auf Spurensuche. Aber sie fand nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine Beziehung auf den Philippinen. Die Fotos von seiner Reise! Das war die letzte Möglichkeit. Sie speicherten beide all ihre Fotos, die meisten von ihren gemeinsamen Reisen, auf einem externen Laufwerk. Liza brauchte nicht lange, um den Ordner R_Philippinen_0217 zu finden. Der Ordner war leer. Linus hatte tatsächlich die Fotos gelöscht oder verschoben.

Ende Woche später erhielt sie ein E-Mail von der Schweizer Botschaft. 

«Sehr geehrte Frau M.
Unsere Recherchen haben ergeben, dass Ihr Mann, Linus M., 2 Nächte im Sofitel Philippine Plaza gebucht hat. Zudem hat er einen Inlandflug von Manila nach Puerto Princesa auf der Insel Palawan am folgenden Tag gekauft. Einfach.
Für weitere Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich jederzeit gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüssen
Markus Leuenberger, Sekretär der Schweizer Botschaft auf den Philippinen»

Liza war erschüttert. Ihr Mann, mit dem sie 10 Jahre verheiratet war, den sie über alles liebte, geliebt hatte, mit dem sie fast alles geteilt hatte, war einfach weg. 

Ihre Enttäuschung war grenzenlos.

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